Neues Deutschland, 11.09.2000


Hans-Jochen Tschiche über Leben zwischen allen Stühlen

Der Pastor und sein Kater

Von Karlen Vesper
 

Ein Pfarrer, der eine FDJ-Vergangenheit hat. den die Leute im Dorf einen Kommunisten nannten und der von sich selbst behauptet, »schon immer ein linker Knochen« gewesen zu sein - wer ist das? Richtig. Hans-Jochen Tschiche. Den Bäckerssohn und nicht vorbildhaften Hitlerjungen hatte der große Aufbruch nach 1945 im Osten Deutschland mitgerissen; er übernahm kurzzeitig sogar die Buchhaltung für die LPG, denn die Bauern hatten ein nicht zu entkräftendes Argument: »Du predigst doch immer, einer trage des anderen Last, wir nehmen Sie beim Wort .. .« Der spätere Leiter der Evangelischen Akademie Magdeburg. Bürgerrechtler und Mitbegründer des Neuen Forums betont: »So wie die DDR oft beschrieben wird, war sie nicht.« Er blickt nicht zurück im Zorn, eher mitunter belustigt.

Tschiche legte Zeugnis ab über sein Leben zwischen allen Stühlen. Das Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung hat ihn darum gebeten und Interessierte in den Grünen Salon der Berliner Volksbühne geladen. Es war bereits das neunte »Abendgespräch über Gott und die Welt«. In dieser Veranstaltungsreihe des Instituts waren zuvor u.a. Bischof Albrecht Schönherr, Lothar de Maizière, Günter Gaus und Christa Wolf zu erleben gewesen.

Selbstredend wollten die Moderatoren - Marianne Regensburger, ehemals Redaktion »Kennzeichen D«, sowie der stellvertretende Institutsleiter Joachim Heise - zunächst von Tschiche wissen, wie er sich das »Phänomen« Rechtsradikalismus und die menschenverachtende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen in Ostdeutschland erkläre. Die Antwort war erst einmal eine Anklage gegen die DDR als ein »autoritäres Regime« und eine »Republik der Kleinbürger«, die deutscher war als die westdeutsche Republik, und in der es keine vergleichbare Weltoffenheit und Wendung zur Demokratie gegeben habe wie im Pendant-Staat ab den sechziger und siebziger Jahren. Dann folgte eine Verteidigung: Antifaschismus war für viele Menschen in der DDR »nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern Teil ihrer Existenz und äußerste Überzeugung«; die Abrechnung mit der NS-Vergangenheit ging tiefer, und nicht unbegründet haben auch im bürgerlichen Lager viele gemeint, dass »der im Osten entstehende deutsche Staat der bessere sei«.

Um heutigen Neonazismus und Rechtsradikalismus zurückzudrängen, so Tschiche weiter, müsse zuvörderst die zivilgesellschaftliche Kraft gestärkt werden - und zwar vor Ort. Sein Verein Miteinander e.V. (integriert im Netzwerk für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit) habe zu diesem Zweck in Sachsen-Anhalt diverse Büros eröffnet, um zu beweisen, dass es »nicht nur eine Last, sondern eine Lust sein kann, sich für Demokratie zu engagieren«. Kommunalpolitikern, die - »um ihre Kleinstadt ruhig zu stellen« - Rechtsradikalen Geld und Räume geben und auf sie dann noch überforderte ABM-Kräfte ansetzen, hält er entgegen: »Den harten rechten Kern erreicht man nicht, der muss von der Gesellschaft isoliert werden.« Tschiche erinnerte auch an die Mitschuld der großen Politik mit der fatalen Asylgesetzgebung (»Das Boot ist voll«).

Beängstigend erscheint ihm, dass heute das Individuum nur noch »Anhängsel einer rasant sich entwickelnden Wirtschaft« ist. Auch auf die Gefahr hin, als unmodern beschimpft zu werden, beharrt er darauf, dass die soziale Frage sehr viel mit der Würde des Menschen zu tun hat. Seine Hoffnung sei gewesen, dass die Französische Revolution mit ihrem Freiheitsideal und der Sozialismus zusammenfänden. Prag 1968 versprach viel, um so größer war die Enttäuschung mit dem Einmarsch. Seitdem aber wusste er, dass weder der Macht im Osten noch im Westen zu trauen ist: »Wir müssen der Sand im Getriebe sein.« So wurde der Landpfarrer in der Altmark zu einem Außenseiter in Staat und Kirche. Denn die Kirche habe sich für die Mündigkeit der Bürger stark zu machen. Es erboste ihn, wenn seine Kirchenleitung mit dem Staatsapparat Gespräche hinter verschlossenen Türen führte; sicher, dabei sei einiges für die Bürger herausgesprungen. Doch war es ihm stets »suspekt, wenn die Patriarchen der einen Seite mit den Patriarchen der anderen Seite verhandelten«.

Einige Worte auch über d i e Partei: Unter den 2,3 Millionen SED-Mitglieder habe es, so Tschiche, einen hohen Prozentsatz kaltschnäuziger Opportunisten gegeben, die die Verwirklichung einer Idee an ein paar alte Männer delegiert haben. Die Rolle der Bürgerrechtler in der Wende beschrieb er als die eines Türöffners: »Hinter der Tür haben dann andere die Politik gemacht.« Nur für einen kurzen Zeitraum, vom September bis zum 9. November 1989, hatten die Bürgerrechtler eine Mehrheit hinter sich, sie wurden wieder Minderheit, als »neue Autoritäten am schwarz-rot-goldenen Himmel erschienen«.

Offensichtlich kann Tschiche damit leben, sich immer wieder auf der Seite einer Minderheit zu finden: so bei seinem Engagement in der kirchlichen und autonomen Friedensbewegung in der DDR und heute wieder, nach der Wahlniederlage der Grünen vor zwei Jahren in Sachsen-Anhalt, wo er Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen war. Vier Jahre war ich auf der Seite der Macht. Sie verließ mich, aber ich fühle mich nicht verlassen.« Auch wenn er vorgibt; nicht gram darüber zu sein, dass er von der Politik - »die süchtig und eitel macht« - Abschied nehmen musste, so klang doch ein wenig Wehmut mit. Und so nimmt man ihm denn doch nicht ganz ab, dass er sich anno ’98 befreit, erleichtert gefühlt hätte: »Ich habe zu meinem Kater Willi gesagt: Wir brauchen jetzt nicht mehr früh aufzustehen, wir brauchen nicht mehr zu regieren.« 

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