Tagesspiegel, 06.11.1999


Gesichter der Wende

Was wurde aus Hans-Jochen Tschiche?

Von Eberhard Löblich

Im Zuge der Wende in der DDR standen sie vor zehn Jahren plötzlich im Rampenlicht. Viele von ihnen kennt inzwischen kaum noch jemand. Der Tagesspiegel stellt täglich ein "Gesicht der Wende" vor und sagt, was aus den Akteuren von damals geworden ist.

Der evangelische Pfarrer Hans-Jochen Tschiche war zu Wendezeiten Bürgerrechtler und Leiter der Evangelischen Akademie von Sachsen-Anhalt. Schon früh hatte er sich in der Opposition engagiert und war den DDR-Behörden als streitbarer Geist lange ein Dorn im Auge. Später gehörte er zu den Mitbegründern des Neuen Forums. Seit 1990 Fraktionschef des Bündnis 90 / Grüne, oblag es Tschiche, die Kompromisse zwischen Rotgrün und Dunkelrot auszuhandeln. Bei der Kompromiss-Suche lief er sich auf den Fluren des Landtages so manches Paar Absätze schief. Denn die Sozialdemokraten waren zwar auf die PDS angewiesen, direkt reden mochten sie mit den SED-Nachfolgern damals aber noch nicht.

Obwohl Regierungschef Reinhard Höppner sein "Magdeburger Modell" 1994 zwar erklärtermaßen mit wechselnden Mehrheiten regieren wollte, blieben die Koalitionäre sehr zum Unwillen mancher Bürgerrechtler an der bündnisgrünen Basis auf die Tolerierung durch die PDS angewiesen. "Angstschweiß riecht man", versuchte Tschiche im Landtagswahlkampf 1998 seinen Parteifreunden von Bündnis 90 / Die Grünen noch den Mut der Verzweiflung einzureden. Doch da hatte der Fünf-Mark-Benzinpreis-Beschluss des Magdeburger Bundesparteitages die Chancen auf den Wiedereinzug in den Landtag von Sachsen-Anhalt und damit die Möglichkeiten zur Fortsetzung der rot-grünen Minderheitskoalition schon gegen Null gedrückt.

Nach dem verpassten Wiedereinzug in den Landtag verabschiedete sich Tschiche, der am 10. November seinen 70. Geburtstag feiert, von der Parteipolitik. Von der Politik selbst kann er indes nicht lassen. Er ist Vorsitzender eines Vereins, der sich der Zurückdrängung rechtsextremer Tendenzen im Land und der Festigung des Demokratiebewusstseins in der Bevölkerung verschrieben hat.  

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