Volksstimme, 06.08.2004; Sachsen-Anhalt, News:
Hartz-Reform / Landespolitiker können Kritik an Demonstranten nicht teilen

Tschiche sieht Parallelen zum Herbst 1989 - Verständnis für Bürgerfrust

Magdeburg - Politiker aus Sachsen-Anhalt zeigen Verständnis für den Bürgerprotest gegen Hartz IV: Der einstige DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche zog Parallelen zu den Wende-Demos 1989. Seine einstige politische Weggefährtin Vera Lengsfeld (früher Grüne, heute CDU) hingegen, hatte die Protestierer wegen überzogener Forderungen kritisiert. Die Landes-SPD fordert Änderungen an Hartz IV.

Der Mitbegründer des Neuen Forums, Hans-Jochen Tschiche, sieht Parallelen zwischen den Montagsdemonstrationen von 1989 und gegen die Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ 2004. Damals sei es um demokratische Freiheiten gegangen, heute um soziale Rechte, sagte Tschiche. Freiheit und soziale Gerechtigkeit gehörten zusammen, fügte er hinzu.
 
Es gehe für die großen Unternehmen nur noch um die Frage, „wie viel Profit können wir machen“. Die westliche Gesellschaft wie 1989 gebe es nicht mehr, sagte Tschiche. Die Arbeitnehmer müssten zunehmend Demütigungen hinnehmen, um ihre Arbeitsplätze zu behalten. Die Arbeitsmarktreform „Hartz IV" nannte er „unglaublich". Da müssten nicht nur Kinder ihre Sparkonten offen legen. Arbeitslose würden zu potenziellen Randalierern diffamiert, indem vor den Arbeitsagenturen Wachposten aufgestellt werden.
 
1989 sei die Zeit reif gewesen für die Montagsdemonstrationen, betonte Tschiche. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob jetzt die Zeit reif ist“, betonte er. Deutschland sei insgesamt auf hohem Niveau verarmt. Die Gehälter der Habenden stiegen weiter an und diese predigten den Ärmeren, den Gürtel enger zu schnallen. Ein Teil der Gesellschaft werde ausgeschlossen ohne Zukunftsperspektiven zu haben. „Die Menschen sollen sich das nicht gefallen lassen.“ Es sei einfach lächerlich zu denken, dass bei rund 20 Prozent Arbeitslosigkeit die Menschen im Osten „zu blöd“ seien, sich selber Arbeit zu suchen.
 
Die Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform seien eine Bürgerbewegung. Wie lange sie sich halte, sei schwierig einzuschätzen. Tschiche erinnerte daran, dass die Demonstrationen in der DDR nach rund einem Vierteljahr zu Ende waren.
 
Der SPD-Bundestagsabgeordnete und einstige Tschiche-Mitstreiter aus Wendezeiten, Markus Meckel, hielt einen Bezug zu 1989 hingegen für „absurd“. Damals sei es um Freiheit und Existenz gegangen - heute um Sozialkürzungen. „Volles Verständnis für die Leute“ hat auch Sachsen-Anhalts SPD-Fraktionschef Jens Bullerjahn, wenngleich auch er keine Parallelen zu 1989 sieht, „da es bei den Demos damals um grundsätzliche Gesellschaftskritik gegangen war“. Bullerjahn kündigte an, dass Sachsen-Anhalts SPD der rot-grünen Bundesregierung in den nächsten zwei, drei Wochen Änderungsvorschläge unterbreiten will. „In ihrer derzeitigen Fassung gehen die Hartz-IV-Reformen an den Gegebenheiten des Ostens größtenteils vorbei und erzeugen in bestimmten Regionen unnötige Härten.“ Bei 266000 Arbeitslosen und 7000 freien Stellen würden selbst schärfste Reformen kaum die Lage am Arbeitsmarkt verbessern. „Deshalb bin ich weiter für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - ABM ist ein Stück Sozialpolitik.“ PDS-Fraktionsvize Birke Bull forderte eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II von gut 300 auf 600 Euro. Die Bürger wüssten, das Sozialreformen nötig seien, sie wendeten sich aber dagagen, dass Reformen immer nur die unteren Schichten treffen.
 
Den Unmut der Leute verstehen kann auch CDU-Sozialpolitikerin und Landtagsabgeordnete Brunhilde Liebrecht. Sie forderte eine Verschiebung der Reformen. Die harsche Kritik von Lengsfeld könne sie nicht teilen.