Die Zeit, 16.03.2006 Nr.12:

Visionen am Abgrund

Wie viel Zweifel verträgt ein Land? Mancher Wahlkämpfer will Sachsen-Anhalt abschaffen, um es zu retten Von Matthias Krupa

Magdeburg - Hans-Jochen Tschiche war gegen Sachsen-Anhalt. Damals, 1990, als sie in der Volkskammer über den Zuschnitt der ostdeutschen Länder diskutierten. Zu klein für ein Land war ihm die Region um Elbe und Saale schon damals erschienen. Zu schwach, um sich im Wettbewerb mit den westdeutschen Nachbarn zu behaupten. Auch das Argument vieler Freunde, die dem Zentralismus der untergegangenen DDR möglichst dezentrale Einheiten entgegensetzen wollten, überzeugte ihn nicht: »Meine Option waren zwei ostdeutsche Länder.«

Hans-Jochen Tschiche wurde vor 76 Jahren in Kossa in der Nähe von Bitterfeld geboren. Sein Abitur machte er in der Lutherstadt Wittenberg, als Pfarrer arbeitete er in der Altmark, seit 30 Jahren lebt er in einem alten Pfarrhaus in Samswegen, nördlich von Magdeburg. Tschiche war im Herbst 1989 Mitbegründer des Neuen Forums, später stand er acht Jahre lang an der Spitze der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Fast sein ganzes Leben hat er in Sachsen-Anhalt verbracht, hat hier gewirkt, gearbeitet und sogar ein bisschen regiert. Nur als Sachsen-Anhalter fühlt er sich nicht. »Historisch«, sagt Tschiche und streckt seine Filzpantoffeln unter dem Küchentisch aus, »wäre es das Einfachste, das Land aufzulösen.«

Sachsen-Anhalt, stolz und kühn. Tatsächlich hat es die jüngere Geschichte nicht sehr gut gemeint mit dem Land, das Hans-Jochen Tschiche nicht wollte. Drei CDU-Ministerpräsidenten wechselten einander ab in den ersten vier Jahren seines Bestehens. Der erste war ein Tierarzt, nach neun Monaten musste er gehen. Kaum etwas ist von ihm geblieben, nicht einmal die bewegende Hymne, die er zur Stärkung der Landesidentität in Auftrag gegeben hatte und die seither ungehört in den Archiven der Staatskanzlei ruht:

Dieses Lied geh’ allen Herzen ein,
die für Harz und Fläming glüh’n,
auch die Elbe soll uns Heimat sein,
Sachsen-Anhalt, stolz und kühn.

Der zweite Ministerpräsident kam aus dem Westen, verdiente gut, zu gut, und ward nach seinem Sturz alsbald nicht mehr gesehen. Dem dritten schließlich blieben 200 Tage, um die erste Legislaturperiode abzuwickeln.

Da waren kein Kurt Biedenkopf, kein Bernhard Vogel, die hätten helfen können, Sachsen-Anhalt auf die Beine zu stellen. Dabei hätte kein anderes der neuen Länder nach dem Kollaps der DDR professionelles Management so nötig gehabt wie dieses. Braunkohle, Bergbau und Petrochemie dominierten bis 1989 die Wirtschaft. Geblieben sind Landmarken der Deindustrialisierung: Leuna, Wolfen, Bitterfeld. Teuer geförderte Industrieparks, in denen zwar manche einzelne Firma blüht, aber bis heute viel zu wenig Arbeitsplätze wachsen. Acht Milliarden Euro haben Staat und Unternehmen allein in den vergangenen vier Jahren in Sachsen-Anhalt investiert – für etwas mehr als 20000 neue Arbeitsplätze.

Eine Vision muss sein. Es war im Winter vor zwei Jahren, als der Sozialdemokrat Jens Bullerjahn daheim in Ziegelrode im Mansfelder Land aufschrieb, wie es weitergehen würde in Sachsen-Anhalt, wenn sich nichts Grundlegendes änderte. Bullerjahn war damals Vorsitzender der Landtagsfraktion; jetzt kandidiert er als Spitzenkandidat der SPD bei der Landtagswahl am 26. März (ZEIT Nr. 10/06). Bereits heute, schrieb er, seien die wesentlichen Entwicklungen der nächsten 15 Jahre vorhersehbar: Die Bevölkerungszahl werde weiter zurückgehen, von rund 2,4 auf etwas mehr als 2 Millionen; 1990 lebten noch 2,9 Millionen Menschen in Sachsen-Anhalt. Das Wirtschaftswachstum bleibe gering, der Arbeitsmarkt (trotz des Bevölkerungsschwunds) angespannt. Vor allem würden die Einnahmen der öffentlichen Haushalte noch einmal dramatisch sinken: weil der Solidarpakt im Jahr 2019 ausläuft, die Zuweisungen der EU bald weniger werden und die Zahl der Steuerzahler unaufhaltsam schrumpft. Statt bislang rund 10 Milliarden Euro, rechnete Bullerjahn, stünden 2020 nach heutigem Geldwert nur noch 6,3 Milliarden Euro zur Verfügung. Zu wenig, um überhaupt »noch ›Staat zu machen‹«.

Düster fiel das Bild aus, das der SPD-Politiker von der Zukunft Sachsen-Anhalts zeichnete, aber Realitäten, schrieb er, »sind bedingungslos anzuerkennen«. Und fügte trotzig hinzu: »Trotzdem: Eine Vision muss sein!«

Nun fällt es nicht leicht, Hoffnung zu verbreiten, wenn sich die Trümmer der Vergangenheit rings um einen türmen. Die »Vision«, die Jens Bullerjahn vor zwei Jahren für sein Land skizziert hat und mit der er heute Wahlkampf führt, ist daher keine der rosigen Art.

Sicherlich: Bullerjahn will in Bildung und Forschung investieren, die Standortqualität verbessern und Fördergelder auf wenige »Wachstumspole« konzentrieren. Das sind für sich noch keine Sensationen. Darüber hinaus soll der Kampf gegen die Abwanderung und gegen die niedrige Geburtenrate zur Leitmelodie der Landespolitik werden; noch immer liegt der Saldo bei mehr als 10000 Einwohnern, die Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr verloren hat. Ungewöhnlich ist die Offenheit, mit der Bullerjahn den Preis hierfür benennt. Genauer gesagt: die Unmöglichkeit, den Preis für all das in Zukunft überhaupt noch zu bezahlen. Denn selbst wenn die Verwaltung gestrafft, die Landkreise fusioniert, Einheitsgemeinden geschaffen und jährlich 2000 Stellen in der Landesverwaltung abgebaut würden, wie Bullerjahn es vorschlägt, ginge die Rechnung nicht auf: »Sachsen-Anhalt wird aus eigener Kraft die zu erwartenden Kürzungen der Zuweisungen des Bundes und der EU nicht auffangen können.«

Mit anderen Worten: Das Land wird sich am eigenen Schopf nicht mehr aus dem Sumpf ziehen können. Weshalb der Sozialdemokrat Bullerjahn ganz unsentimental empfiehlt, Sachsen-Anhalt bis 2020 aufzulösen und gemeinsam mit Thüringen und Sachsen zu einer schlagkräftigeren Einheit zu fusionieren. Das hat es so tatsächlich noch nicht gegeben (und wäre wohl im Saarland, in Rheinland-Pfalz oder Schleswig-Holstein undenkbar): Dass einer, der Ministerpräsident werden will, seinem Land vorab einen kw-Vermerk anheftet. Sachsen-Anhalt, stolz und kühn: künftig wegfallend.

Brocken und Bauhaus. Natürlich haben CDU und FDP die Gelegenheit im Wahlkampf nicht verstreichen lassen. Milde attackiert der amtierende Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU), der selbst einen Wahlkampf hart an der Grenze der politischen Verweigerung führt, sein Gegenüber: »Eigene Verzagtheit darf nicht dazu führen, dem ganzen Land die Zukunftsfähigkeit abzusprechen.« Direkter geht CDU-Chef Thomas Webel auf die SPD los: »Einer Partei, die dem eigenen Bundesland keine Chance gibt, nimmt man es schwer ab, sich mit Hand und Herz für die Menschen in Sachsen-Anhalt einzusetzen.«

Aber verfängt dieser Konter in einem Land, das in der Erinnerung seiner Bewohner kaum verankert ist? Gibt es dieses Gefühl überhaupt: Wir in Sachsen-Anhalt?

Sieben kurze Jahre nur bestand das Land. 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht aus der alten Preußischen Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt zusammengeschraubt, aufgelöst und per Gesetz exekutiert auf Geheiß der SED 1952. Ein Bindestrich-Land wie Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen, nur 40 Jahre jünger und nach Einwohnern gerechnet nicht viel größer als der Stadtstaat Hamburg. Aber Halberstadt, Magdeburg, Quedlinburg! Heinrich I., Otto der Große, Luther! Der Park in Wörlitz, das Bauhaus in Dessau, der Brocken! »Wir leben in einer Region, in der sich seit 1200 Jahren deutsche Geschichte abgespielt hat. Komischerweise ist das nicht im Bewusstsein der Deutschen verankert – aber auch nicht im Bewusstsein der Sachsen-Anhalter«, sagt Reinhard Höppner, Ministerpräsident bis 2002. Hans-Jochen Tschiche: »Wir stinken ja vor Geschichte, nur Sachsen-Anhalt hat keine Grundlage.«

Fahren Sie nach Gardelegen! »Das Land auflösen? Absurd! Was ändert das denn an unserer Wirtschaftskraft?« Karl-Heinz Paqué ist empört. Natürlich, auch er führt Wahlkampf, und wenn es ganz schlecht läuft für seine Partei, die FDP, dann verliert Karl-Heinz Paqué nicht nur seinen Job als Finanzminister, sondern sogar sein Landtagsmandat. Denn auch das gehört zur Labilität dieses Landes: Der Wählerwille ist stets unverlässlich. Vor vier Jahren triumphierte die FDP mit 13Prozent, diesmal darf sie nicht sicher sein, die Fünf-Prozent-Hürde zu meistern. Doch Paqués Empörung ist nicht nur gespielt. Er selbst zog vor zehn Jahren nach Sachsen-Anhalt, war Professor für Volkswirtschaft an der Universität in Magdeburg, bevor er sich als Seiteneinsteiger in die Politik warf. Nun kämpft er mit Leidenschaft gegen die düsteren Prognosen und den Verdacht, der Aufbau Ost sei stecken geblieben. »Fahren Sie nach Gardelegen!«, empfiehlt er. »Ein tolles Städtchen mit mittelalterlichem Kern und wachsenden Gewerbegebieten.« Im Übrigen sei in den USA noch kein Mensch auf die Idee gekommen, die Zahl der Bundesstaaten zu verändern – nur weil Wyoming oder Delaware zu kleine oder zu strukturschwache Regionen seien.

Aber die Finanzen? Die Schulden Sachsen-Anhalts sind während Paqués Amtszeit noch einmal kräftig angewachsen, von 15,7 Milliarden Euro 2002 auf mehr als 19 Milliarden 2005. Natürlich müssten die Ausgaben weiter gesenkt und Personal abgebaut werden. Doch nicht der Haushalt sei das Problem, sondern das Wachstum, argumentiert der Ökonom Paqué und verweist darauf, dass Sachsen-Anhalt zwischen 2002 und 2004 mit einem realen Wachstum von 3,6 Prozent den zweiten Platz im Vergleich aller 16 Bundesländer belegt hat. Bullerjahns Prognosen stünden daher auf tönernen Füßen, »statische Fortschreibungen, ohne Berücksichtigung der Dynamik, die in einer Region entstehen kann«.

Eine hübsche Verkehrung der Rollen ist das: Hier ein liberaler Finanzminister, der davor warnt, einzelne Regionen – und seien sie noch so prekär – einfach aufzugeben. Dort ein sozialdemokratischer Spitzenkandidat, der angesichts leerer Kassen den Wettbewerb der Standorte verschärft und dabei Gemeinden, Kreise, schließlich das ganze Land infrage stellt. Die Krise zwingt die Menschen in sonderbare Konstellationen.

© DIE ZEIT 16.03.2006 Nr.12