Horch und Guck, Heft 49

Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland

In Europa begann die Moderne mit der Aufklärung. Ihr Siegeszug befreite den Menschne von der Knechtschaft übergeordneter Instanzen, zuerst nur ideologisch, später auch rechtlich. Die Botschaft lautete: Jeder Mensch ist unabhängig von seiner Stellung in Staat, Gesellschaft, Familie, Beruf, Religion und Kultur mit Rechten ausgestattet, die ihm zustehen, weil er als Mensch geboren wurde. Sie sind ihm von Natur aus gegeben. Dabei handelt es sich um Freiheits-, Gleichheits- und Partizipationsrechte und im zunehmenden Maße auch um soziale Rechte. Abgesichert werden sie rechtlich durch Grundrechtskataloge und Staatszielbeschreibungen in den demokratischen Verfassungen. Aber der sozialistische Staat behauptete, er hätte noch ein höheres Gut, nämlich die Idee des Sozialismus. So wurden die Menschenrechte auf dem Altar der Ideologie geopfert. Die geringe Absicherung der sozialen Menschenrechte in der bundesdeutschen Verfassung kann wirtschaftlichen Interessen zum Opfer fallen. Die Ostdeutschen haben beide Gefährdungen erfahren.

Zweimal gingen sie auf die Straße. Und zweimal demonstrierten sie für die Menschenrechte. Im Herbst 1989 erhoben sie sich gegen den vormundschaftlichen Staat und forderten ihre Freiheitsrechte. Sie wollten, dass etwas anders wird in der damaligen DDR. Im Sommer 2004 - fast 15 Jahre später - strömten sie wieder auf die Straßen. Sie hatten das Vertrauen zum fürsorglichen Staat verloren, von dem sie sich den Schutz ihrer sozialen Menschenrechte erwartet hatten. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe - Hartz IV ist die Kurzformel für diese Veränderung - erschien ihnen als Bedrohung ihrer sozialen Zukunft. Sie wollten, dass sich nichts änderte auf diesem Gebiet. Der industrielle Zusammenbruch des Ostens nach 1990 und die trostlose Lage auf dem Arbeitsmarkt war die von ihnen nicht erwartete Folge der Vereinigung der DDR und der alten Bundesrepublik. 14 Jahre hatten sie das schimpfend und hoffend hingenommen. Die Leute hatten sich 1990 voller Vertrauen in Richtung Westen orientiert. Dann gab es diese tiefe Enttäuschung. Die Mehrzahl musste die Erfahrung machen, dass Teile ihrer Biographie für westliche Augen suspekt waren. Sie hatten das Gefühl, wir sind draußen. Die Demütigungen der letzten Jahre haben sie tief gekränkt. Hartz IV war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Zweimal liefen die Menschen im Osten für die Menschenrechte durch die Straßen. Das erste Mal haben sie gewonnen, und ein Staat brach zusammen. Das zweite Mal haben sie verloren und die Leute haben sich verlaufen. Ich möchte versuchen, mir und den Leserinnen und Lesern die Ursachen für Erfolg und Misserfolg zu erklären.

Die französische Revolution eröffnete dem Bürgertum den Aufstieg. Die rasche Industrialisierung im 19. Jahrhundert befestigte seine Macht und schuf zugleich Arbeitsmöglichkeiten für Menschenmassen, die es bisher nicht gegeben hatte. Aber große Teile von ihnen vegetierten im Elend vor sich hin. Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Wohnverhältnisse spotteten jeder Beschreibung. Die entstehenden Arbeiterparteien in Europa wollten diese Zustände beseitigen. Die Radikalen unter ihnen strebten die Abschaffung des ganzen kapitalistischen Systems an. Sie bekämpften die Reformer, sie wollten die Revolution. Das war der Dauerstreit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie hassten sich tödlich. Und doch hofften viele Linke, dass die russische Revolution 1917 der Beginn einer gerechten Gesellschaft sein könnte. Auch Intellektuelle aus dem bürgerlichen Lager schauten voller Zuversicht nach dem Osten.

In den 20er Jahren wuchs in Europa der nationalistische und antisemitische Ungeist. Autoritäre Systeme breiteten sich aus. Und die bürgerlichen Eliten machten mit ihnen oft gemeinsame Sache. Diese Entwicklung endet in der Katastrophe des 2. Weltkrieges. Als der Krieg 1945 zuende ging, die Völker Europas befreit waren, hofften die Menschen wieder auf eine neue Zeit. Aber die alte Spannung zwischen den westlichen demokratischen Staaten und dem östlichen Sozialismus sowjetischer Prägung dauerten an. Der Osten fürchtete den ungezügelten Kapitalismus. Den Westen schauderte es vor dem sowjetischen Imperium.

Als die deutschen Kommunisten sich im Machtbereich der Sowjets daranmachten, einen Staat aufzubauen, war der heiße Atem revolutionärer Veränderungen längst vergangen. Engstirnige Kleinbürger und Apparatschiks hatten in der DDR das Sagen. Wenn man die Akten der Staatssicherheit liest, merkt man, dass sie sich von einer Welt von Feinden umgeben sahen. Die Bevölkerung hatte sich zwar im Laufe der Jahre mit dieser politischen Macht arrangiert, aber sie machte nur mit, heuchelnd, knurrend und schimpfend, und engagierte sich nicht. Ihr eigentliches Leben vollzog sich jenseits der Öffentlichkeit. Die Menschen gingen zur Wahl, die keine war. Sie liefen in „machtvollen Demonstrationen“ mit, werkelten in den Betrieben vor sich hin, schlugen „Ernteschlachten“, fuhren Hennecke-Schichten. Aber sie wussten: Alles Getue! Selbst bei der so genannten Vorhut der Arbeiterschaft feixten und gähnten viele Mitglieder wegen des ununterbrochenen Phrasengedröhns, das ihnen von früh bis Abend entgegenschallte. Die Bevölkerung wanderte jeden Abend nach dem Westen aus, schaute sich Tag für Tag das westliche Schaufenster an. Die Bundesrepublik bemühte sich sehr, Wohlstand und Freiheit für alle ihre Bürger zu erreichen. Auch die westlichen Alliierten hatten daran ein Interesse, dass ihr System den Massen im Osten attraktiv erschien. Mitten durch Deutschland verlief die Kampflinie des Kalten Krieges. Und die soziale Marktwirtschaft des Westens sollte die Kapitalismuskritik ad absurdum führen.

Nur in der frühen Nachkriegszeit blühte auch im Osten kurze Zeit das demokratische Pflänzchen. Aber spätestens ab 1948 war es damit vorbei. Der Stalinismus, Sinnbild für undurchschaubare Willkür der Mächtigen und die Pervertierung der Marx'schen Idee von der kommunistischen Gesellschaft, wurde zum Herrschaftsprinzip im sowjetischen Machtbereich in Deutschland. Er wirkte auch lange nach Stalins Tod fort. Als 1953 in der DDR ein Volksaufstand losbrach, wurde der Widerstand plattgewalzt, und die Sieger rächten sich blutig. Nachdem die Überzeugungsarbeit für den real existierenden Sozialismus keine Früchte getragen und der staatliche Terror die Leute zu Hunderttausenden aus dem Land getrieben hatte, mauerten schließlich die Herrschenden ihre Bevölkerung ein. Und doch gab es damals kurzzeitig bei manchen Bürgerinnen und Bürgern die Hoffnung, dass nach dem Ende des Aderlasses der Eliten ein liberaleres Klima in der DDR entstehen könnte. Eine von den so genannten Tauwetterperioden setzte ein. Aber bald überzog der ideologische Frost wieder das Land. Noch einmal flammte die Hoffnung auf, als 1968 im „Prager Frühling“ durch die führenden tschechoslowakischen Kommunisten in ihrem Machtbereich die Demokratisierung vorangetrieben wurde. Und wieder rollten die sowjetischen Panzer.

In den folgenden Jahren versuchte die Bundesrepublik Deutschland, nicht mehr nach den Regeln des Kalten Krieges zu handeln. Die sozial-liberale Koalition begann das Verhältnis zur Zentralmacht in Moskau zu entspannen. Sie hoffte, langfristig auch eine Erleichterung für die Deutschen in der DDR zu erreichen. Aber am status quo der Machtverteilung wollte sie nicht rütteln. Es hätte nach ihrer Meinung den atomaren Abschreckungsfrieden gefährdet.

Die Großmächte rüsteten weiter. Mit einer ungeheuren Anstrengung hielt die Sowjetunion waffentechnisch mit der USA Schritt. Das sowjetische Imperium bezahlte dafür einen hohen Preis. Dirigismus und mangelnde Investitionskraft ruinierten die Volkswirtschaften im Ostblock. Die laut verkündeten Erfolgsstorys vom siegreichen Fortschritt des Sozialismus auf allen Gebieten erwies sich als groteskes Lügenmärchen. Michail Gorbatschow reagierte auf die gefährliche Situation. Im Inneren wollte er Glasnost und Perestroika und nach außen die Abrüstung. Aber auch auf ihn traf sein klassisch gewordener Ausspruch zu: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Er rettete das Sowjetreich der Nachkriegszeit nicht mehr, sondern beschleunigte seinen Untergang. Die DDR-Oberen ahnten wohl die Gefahr für ihre Herrschaft, die durch Gorbatschow heraufzog. Das Politbüromitglied Prof. Dr. Kurt Hager ließ verkünden, dass man nicht unbedingt seine Wohnung neu tapezieren müsse, wenn der Nachbar damit anfängt. Sie sahen keinen Reformbedarf in der DDR. Mitte der 80er Jahre war die Situation einigermaßen gespenstisch. Die Greise im Politbüro hockten auf ihren Machtsesseln, hatten jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verloren und duldeten keinen Widerspruch. Das Millionenheer der Genossen war in sich gespalten. Die Engstirnigen und die Opportunisten hatten das Sagen. Die Gutgläubigen, die Traurigen, die Verzweifelten und die Zornigen waren ratlos und sahen hilflos zu, wie ihr Lebenstraum zerfiel.

Die Opposition in der DDR hatte sich meist in kirchlichen Gruppen gesammelt und bildete eine winzige Minderheit in der Gesellschaft. Ausgerechnet diese kleine Schar, die von den Offiziellen als eine hinreichend bekannte Gruppe von Sozialismus- und Staatsfeinden bezeichnet wurde, wollte in dieser Spätzeit den Sozialismus retten. Sie hatten nicht begriffen, dass die Nachkriegszeit zu Ende gegangen war. Mit Teilen der evangelischen Kirche im Rücken forderten sie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Der linke Traum von einer freiheitlichen, sozial gerechten, friedlichen und umweltfreundlichen Welt sollte endlich in der Politik der DDR sichtbar werden. Die DDR sollte nicht verschwinden, sie sollte sich nur ändern.

Die innenpolitische Lage wurde für die Staatsmacht immer schwieriger. Die Wirtschaft war in einem desolaten Zustand. Die Zahl der Ausreisewilligen stieg sprunghaft an. Eine tiefe Unzufriedenheit wurde öffentlich spürbar. Veränderung lag in der Luft. Da beschlossen im Spätsommer 1989 die Dissidenten, die Schutzräume der Kirchen zu verlassen und politische Sammlungsbewegungen und Parteien zu gründen. Gleichzeitig öffneten die Ungarn die Grenzen nach Westen. Eine Massenflucht setzte ein. In dieser Situation boten einige Pfarrerinnen und Pfarrer in einigen Großstädten ein Gebet für die Erneuerung der Gesellschaft an. Das war die Geburtsstunde des Montagsgebetes. Jetzt kam die Geschichte ins Laufen. Die Besucherzahlen wuchsen rasch. Es war wie ein Rausch. Leipzig und die Nikolaikirche waren das Signal. Die Menschen gingen auf die Straßen. Am 40. Jahrestag der DDR prügelte die Polizei noch einmal wahllos auf Bürgerinnen und Bürger ein. Aber als am 9. Oktober 1989 sich ein gewaltiger Demonstrationszug durch Leipzig wälzte, wich die Staatsmacht zurück. Die Leute riefen: „Keine Gewalt!“ Dabei blieb es in Zukunft auf beiden Seiten. Den Mächtigen entglitt das Heft des Handelns und öffneten am 9. November die Mauer. Damit begann das schnelle Ende der DDR. Die Sozialismusreformer aus der Opposition verloren ganz schnell ihren Einfluss. Sie waren zwar die Türöffner für eine andere Politik, aber hinter der Tür übernahmen andere die Initiative. Die DDR-Bevölkerung hatte ein Alternative vor den Augen. Das war die Bundesrepublik. Als sich nach anfänglichem Zögern Bundeskanzler Kohl und seine Mannen auf diese Erwartungen einließen, war der Vereinigungsprozess der beiden deutschen Teilstaaten unaufhaltsam. Die Montagsdemonstrationen waren eine Erfolgsgeschichte, weil es eine Alternative zum real existierenden Sozialismus gab. Für die Mehrheit der DDR-Bevölkerung erfüllte sich der Traum ihres Lebens. Die radikale und autoritäre Linke hatte den Sozialismus selbst von der Bühne der Zeitgeschichte geschubst.

Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion warf die Ostdeutschen in das kalte Wasser der Marktwirtschaft. Zwar verfügten sie jetzt über die Freiheitsrechte, aber der erhoffte Wohlstand blieb aus. Noch hoffte man auf die Wiederholung des Wirtschaftswunders der alten Bundesrepublik, das mit dem Namen Ludwig Erhard s unauflöslich verbunden war. Aber in Wirklichkeit kam die Deindustrialisierung. Am Anfang wurde noch in einer Art Goldgräberstimmung in die Infrastruktur investiert. Straßen, Gewerbegebiete, Eisenbahn, Kanäle, Telefonnetz - die Bauwirtschaft nahm Tempo auf. Aber bald stürzte sie in eine tiefe Depression. Die DDR-Kombinate des produzierenden Gewerbes konnten sich auf dem Markt nicht behaupten. Die Treuhand, die das Volkseigentum vermarkten sollte und von der man sich Millionengewinne für einen Neuanfang erwartet hatte, blieb weit hinter ihrem Ziel zurück. Hinzu kam, dass die DDR der Bundesrepublik just in dem Augenblick beitrat, als die klassische Industrie mit ihrem hohen Arbeitskräfteeinsatz kein Erfolgsmodell mehr war. Menschliche Arbeitskraft wurde zu teuer und wurde mehr und mehr durch computergesteuerte Anlagen ersetzt. Diese Veränderungen wurden anfangs in den 90er Jahren nicht wahrgenommen, weil die Konsumnachfrage im Osten durch den günstigen Geldumtausch bei der Währungsunion für einige Zeit erheblich anstieg. Der Bundeskanzler wollte die Deindustrialisierung aufhalten und forderte den Erhalt industrieller Kerne. Mehrere Milliarden DM aus Steuermitteln wurden z.B. in die Region Leuna/Merseburg gepumpt, um weltweit agierende Chemiekonzerne anzulocken. Hochmoderne Fertigungsstätten wurden errichtet. Wenn dabei 1.000 Arbeitsplätze entstanden, war das schon ein sensationeller Erfolg. Aber einst hatten hier 10.000 Menschen und mehr gearbeitet. So kam es in ganz Ostdeutschland zur Massenarbeitslosigkeit.

Andere bittere Erfahrungen fügten sich an. Glücksritter aus dem Westen rissen sich die Betriebe unter den Nagel, requirierten die Kundenkartei und das technische Know-How, und dann verlegten sie die Produktion in den Westen, und der Ostbetrieb war erledigt. Mancher der hoch gelobten Betriebsübernehmer war schlicht und einfach ein Betrüger mit einer hohen kriminellen Energie. Ich will ja gar nicht bestreiten, dass viele graue Orte aus DDR-Zeiten sich zu wahren Schmuckkästen herausgeputzt haben. Manche Fachwerkstädte sind nicht mehr wiederzuerkennen. Sie erstrahlen im neuen Glanze. Aber gleichzeitig übernahmen sich große und kleine Kommunen, erschlossen Gewerbegebiete und planten Abwasserentsorgungseinrichtungen, die den Bedarf weit überstiegen. Sie setzten Millionen in den Sand. Wohin wir schauen, wir sehen Pleiten, Pech und Pannen.

Und dabei hatten die ostdeutschen Landsleute von der Obrigkeit so viel erwartet. Seit Jahrzehnten hatten sie in einem autoritärem System gelebt. Das hatte sie geprägt. Für sie kam der Segen immer von oben. Jetzt erwies sich ihr Vertrauen auf die westlichen Autoritäten, die ihnen blühende Landschaften versprochen hatten, als Gerede von Leuten, die nicht hielten, was sie versprochen hatten. Die Ostmenschen reagierten verbittert. Trotzdem haben sie 10 Jahre und länger immer nur das getan, was sie stets getan haben und was sie am besten konnten: Schimpfen, Meckern, Nörgeln. Gut, sie hatten ihre Lebensplanung geändert, neue Berufe gelernt, für wenig Geld gearbeit, sich von den Arbeitgebern demütigen lassen. Aber die Misere blieb. Der Zorn auf die Westdeutschen stieg. Es entwickelte sich so etwas wie ein deutsch-deutscher Rassenhass. Auch die westdeutsche Bevölkerung reagierte verärgert auf das östliche Gejammere und wollte wissen, wo die Steuermilliarden versickert seien.

Unterdessen hat sich die Arbeitsmarktlage in ganz Deutschland verschlechtert. Die weltweit agierenden Konzerne streben nach billigen Arbeitsplatzkosten und hohen Renditen. Ökonomisch ist nicht mehr möglich, was sich manche immer noch wünschen, nämlich die nationale Abschottung. Globalisierung ist das neue Stichwort. Es gilt als Alibi für die Behauptung, dass die weltweiten ökonomischen Verhältnisse die Gesellschaften dazu zwingen würden, die sozialen Standards in den Industrieländern herabzufahren. Die heraufbeschworene weltweite Konkurrenz zwischen den hochindustrialisierten Staaten und den Billiglohnländern entspricht nicht der ökonomischen Wirklichkeit. Aber die Bundespolitiker lassen sich von dieser Globalisierungsbehauptung bestimmen und verkünden, die Bundesrepublik Deutschland müsse sich auch auf diesen Weg begeben. Sie reden von Modernisierung der Sozialsysteme und der Arbeitswelt. Wir machen das Land fit für die Zukunft, lassen die Politiker wissen. Hartz IV sei notwendig, sagen sie. Es gebe dazu keine Alternative. Zehn Jahre und mehr fühlten die Ostdeutschen sich gedemütigt, jetzt fühlten sie sich bedroht. Im Sommer 2004 brach der Sturm los. Montags wurde demonstriert. 10.000 in Leipzig, 10.000 in Magdeburg, 3.500 in Dessau, 1.500 in Gera. Die Wut auf die Politik bekam Beine. Noch nie waren die Leute so geladen, noch nie gab es so viel böses Blut. Niemand wusste zu dieser Zeit etwas genaues. Aber allen war klar, dass es furchtbar werden würde. Die Datsche sei nicht mehr zu halten, man müsse das Auto verkaufen, die Wohnung sei zu groß und müsse geräumt werden, schließlich müsse man den Schmuck der Oma versilbern. Die Angst und die Wut gingen um. Die Leute erinnerten sich an die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989. Da hatten sie endlich den aufrechten Gang gewagt, und die Mächtigen versprachen ihnen das Blaue vom Himmel. Sie änderten ihre Politik oder liefen davon. Auf das Volk wurde gehört.

Im August 2004 erschienen plötzlich wie aus dem Nichts Menschen auf der Bildfläche, die zu Demonstrationen aufriefen. In Magdeburg war es Andreas Erhold aus einem kleinen Dorf im Landkreis Jerichower Land. Natürlich war er in keiner Partei. Als er von Hartz IV hörte, machte er sich auf die Strümpfe und unternahm etwas. Auf den Domplatz sollten die Leute kommen. Und Tausende erschienen. Plötzlich waren Medienvertreter aus der ganzen Bundesrepublik in der Magdeburger Provinz auf der Jagd nach diesem Mann. Die Parteien hielten sich zunächst sehr zurück. Die PDS wäre liebend gern auf den fahrenden Zug gesprungen und hätte nach einer gewissen Schamfrist erklärt, sie sei die Lokomotive. Und dann war dort auch noch die NPD und gerierte sich als Retter des Sozialstaates. So nahm der Zug in Magdeburg gespenstische Form an. Am Anfang lief ein großer Block, das waren Erhold und die Parteifernen, dann kam ein Pulk PDS-Freunde, hinterher lief die Antifa-Jugend und zuletzt die NPD-Getreuen.

Die Demonstranten waren überzeugt: „Wir werden einen Flächenbrand in Deutschland erzeugen.“ Die Leute irrten sich. Im Herbst 1989 war die Zeit herangereift, das System war damals brüchig. Nur ein wenig Druck und es fiel endgültig in sich zusammen. Und es gab eine Alternative: Die westliche Gesellschaft. Die Bundesrepublik im Jahre 2004 war nicht in dem Zustand, der die DDR untergangsreif gemacht hatte. Das Land ist immer noch stabil und reich. Die Bevölkerung im Westen spürt die Veränderungen nicht so schmerzhaft und begegnet ihrem Staat nicht mit jener Verdrossenheit, die die Spätzeit der DDR kennzeichnete. Deshalb gab es im Westen auch keine Massendemonstrationen. Nur der Osten war aufgeschreckt.

Der Zorn und manchmal auch die Verzweiflung der Leute ist verständlich. Aber die Zeit ist heute noch nicht reif, dass die real existierende Ellenbogengesellschaft sich als ausweglose Sackgasse entlarvt. Es gibt im Augenblick keine Alternative. So waren die Demonstrationen eher ein Aufschrei der Wut, der Hilflosigkeit und der Verzweiflung. Die Hoffungen liefen schließlich ins Leere. Die beginnende Massenbewegung ist zu einer sektenhaften Größe geschrumpft.

Natürlich ist mir klar, dass die sozialen Lösungen der klassischen Industriegesellschaften, die die Politik entwickelt hatte, für die nachindustrielle Gesellschaft nicht mehr haltbar sind. Ihre Absicherungen wurden im Wesentlichen durch Arbeit finanziert, während Kapital und Vermögen wesentlich weniger dazu beitrug. Es wird sicher in Deutschland keiner verhungern müssen, aber viele werden in ihrer Menschenwürde verletzt werden. Es müssen andere Modelle her, die verhindern, dass in einer reichen Gesellschaft immer mehr Menschen verarmen.

Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, wie die sozialen Absicherungssysteme einer reichen Gesellschaft neu gesichert werden können. Offensichtlich gibt es auch diesmal - wenn auch nur partiell - eine Kommunikationsstörung zwischen den Regierenden und den Regierten wie im Jahre 1989. Das Grummeln im ganzen Land und auch in Teilen der SPD sollten die Verantwortlichen nicht überhören. Auch die Opposition kann nicht von sich behaupten, sie hätte das Ohr am Volke. Zwischen der Steuererklärung auf Bierdeckeln und der Wirklichkeit sind Welten. Die Behauptung der Bundesregierung, es gebe zu ihrem Angebot keine Alternative, ist albern. Nur zum lieben Gott gibt es keine Alternative. Die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit als Hängemattenmentalität zu diffamieren ist zynisch und gemein. Wir sollten es wenigstens öffentlich sagen, wenn auch die Lösungen noch nicht klar zu erkennen sind.

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