Schrägstrich 9-10/99

Zehn Jahre Mauerfall

Wo stehen wir heute in Ostdeutschland?

Die Fremdheit ist weiter spürbar zwischen West- und Ostdeutschen. Nach zehn Jahren ist das Land politisch nicht wirklich zusammengewachsen. Auch BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN bekommen dies zu spüren. Eine Bilanz.

Die Frage nach dem Standort weckt die Erwartung, dass in unserer Parteizeitschrift natürlich zuerst von den Bündnisgrünen in Ostdeutschland geredet werden muss. Das werde ich später auch noch tun. Aber ich will zuerst über meine ostdeutschen Landsleute nachdenken. Ihnen fühle ich mich in besonderer Weise vertraut und fremd zugleich. Ihr Weg seit dem Mauerfall vor fast zehn Jahren und ihre Einstellung zu den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999 ist bedenkenswert und bedenklich zugleich.

Als die DDR in jenem unvergesslichen Herbst 1989 von freiwilligen Demonstrationen überzogen wurde, dachte ich, die Untertanen schütteln ihr Joch ab. Jetzt würden sie sich als mündige Bürgerinnen und Bürger entpuppen, die entschlossen und selbstbewusst ihr gesellschaftliches Schicksal in die eigenen Hände nehmen würden. Dann öffnete sich im November die Mauer. Plötzlich war diese Stimmung wie vom Winde verweht. Die Ostdeutschen wollten nicht mehr 'Das Volk', sondern nur noch 'Ein Volk' sein. Die westliche Republik mit ihrem glitzernden Glanz stand übermächtig vor der Tür. Die politischen Macher vom Rhein schienen ihnen unendlichen Jubels und ungebrochen vertrauenswert zu sein. Die kindhafte Überzeugung, nun endlich bei den richtigen Autoritäten angekommen zu sein, sollte bald ihre politischen Früchte zeigen.

Neue Autoritäten

Der normale Ostdeutsche wünscht sich einen starken Staat und fürsorgliche Landesväter, die alles regeln. Die autoritären Prägungen des vergangenen Staates und auch der Hitlerzeit wirken ungebrochen fort. Manch einer in diesen Gefilden war in seiner Jugend oder als junger Erwachsener dem finsteren Charme der autoritären Nationalsozialisten erlegen. Als ihnen von den Kommunisten die Augen geöffnet wurden und ihnen die Welt erklärt wurde, flüchteten sie sich in die Arme der neuen Autoritäten. Sie hatten den Bekehrten ihre Glaubwürdigkeit durch Leiden bewiesen. Nun standen die Gutgläubigen am Ende der DDR wieder als Betrogene da.

Solidarität?

Die Mehrheit der Bevölkerung hatte nicht diese politischen Biografien aufzuweisen, aber den obrigkeitsstaatlichen Prägungen konnten sie trotzdem nicht entfliehen. Vierzig Jahre und mehr Anpassungstraining blieb nicht ohne Folgen. Das ostdeutsche Anpassungssyndrom funktionierte auch Ende 1989. Wer eilends zum Anschluss sich entschloss, alle eigenstaatlichen Kinkerlitzchen unterließ, dem Einmarsch der westlichen Politiker und Wirtschaftsbosse Tür und Tor öffnete, der hoffte auch, dass die westlichen Lebensverhältnisse auf ihn übertragen wurden. Das Versprechen der Bundesregierung, dass blühende Landschaften den Osten schmücken würden, verstärkte diese Illusion. Die Bevölkerung bejahte die unglaubliche Hast, mit der die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten vorangetrieben wurde.

Die Ostdeutschen fühlten sich den Westdeutschen unterlegen. Sie verstummten und redeten nicht von eigenen Wegen. Und als das Heer der Arbeitslosen wuchs, die Deindustrialisierung fast komplett vonstatten ging, verstanden sie sich nicht als Mitverursacher dieser Geschichte. Sie verklärten sich plötzlich das Leben in der DDR. Landauf, landab wird von der großen Solidarität geschwärmt, die wir angeblich alle erfahren hätten. Sicher hat es auch echte Solidarität gegeben, wie sie an jedem Ort und zu jeder Zeit zu finden ist. In den privaten Nischen gab es Nestwärme. Aber Solidarität als gesellschaftliches Ereignis fand nicht statt. Angeordnete Solidaritätsspenden für Nikaragua konnten es ja nicht gewesen sein. Der DDR-Alltag war von Eigennutz geprägt. Ich glaube der Behauptung eines ostdeutschen Ministerpräsidenten nicht, hier sei der Ort gewesen, wo man den Weg vom Ich zum Wir einüben hätte können. Jeder sah zu, wo er blieb. Bestechung und überhöhte Preise waren im Reich des Mangels die Regel. Beziehungen waren alles. Das so genannte Westgeld war auf jeden Fall die Krone in diesem Spiel. Eine Hand wusch die andere. Wir hatten es nicht mit einer Solidargemeinschaft, sondern mit einer Handwäscherrepublik zu tun.

Eine bleibende Fremdheit zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen ist spürbar. Das anhaltende Gefühl, hinters Licht geführt worden zu sein, wieder einmal die Dummen gewesen zu sein, löste im Osten eine allgemeine Larmoyanz aus. Ostnostalgie mischt sich mit antiwestlichen Ressentiments. Dies konnte man im Kosovo-Krieg beobachten. Die Mehrheit der Bevölkerung im Westen Deutschlands hatte den Vorrang der Menschenrechte in dieser besonderen Situation vor dem Völkerrecht akzeptiert und den Einsatz von Militär unter großen Bedenken hingenommen. Die öffentliche Diskussion wurde nicht von Selbstgerechtigkeit, sondern von Selbstzweifeln und innerer Zerrissenheit bestimmt. Joschka Fischer ist sicher deshalb zum beliebtesten Politiker der Bundesrepublik geworden, weil ihm in diesem Krieg eine politische Lösung gelang, die allen moralische Entlastung verschaffte.

Anders verhielt sich die Mehrheit meiner ostdeutschen Landsleute. Sie folgten den Argumenten der PDS. Damit war die Sache klar. Rudolf Scharping war ein Kriegsminister und Joschka Fischer ein Kriegstreiber. Sie dienten dem westlichen Imperialismus und dem Kapital. Dieser Krieg war die Stunde der Ostdeutschen. Jetzt sahen sie einmal klar. Während die Westler von Zerrissenheit schwafelten, kannten sie die Ursachen aller Kriege und damit auch des Krieges auf dem Balkan. Die Ostdeutschen schauten durch. Es wäre schön, wenn alles so einfach wäre, wenn wir die Welt bedenkenlos in Gutmenschen und Bösewichte einteilen könnten.

Vernunftehe

Diese ostdeutsche Gemengelage wurde schon am Tag der Maueröffnung für die Bürgerrechtler beschwerlich. Sie waren in den Herbstmonaten vor dem Fall der Mauer die Türöffner für eine andere Zeit. Der Raum hinter dieser Tür wurde von anderen bestimmt. Die alten und die neuen Parteien hatten ihre westdeutschen Mütter entdeckt. Sie wurden mit ein wenig Misstrauen gegenüber den alten Blockparteien und mit großer Freude gegenüber den ostdeutschen Neugründungen wie legitime Kinder adoptiert. Die PDS kämpfte, von allen finster betrachtet, ums politische Überleben. Drei Gruppierungen der Bürgerbewegten – das Neue Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte – blieben vorerst ohne Partnerin. Nur die Grünen zeigten Interesse für die Dreierbande, die später Bündnis 90 heißen sollte. Sie aber waren die westdeutsche Nachkriegspartei. Im Schatten der 68er Ereignisse und der sozialen Bewegungen entstanden, vertraten sie in besonderer Weise die selbstbewussten, selbstbestimmten, emanzipierten, antiautoritären und umweltbewegten Bürgerinnen und Bürger, denen der Obrigkeitsstaat ein Greuel war. Sie waren genau das Gegenteil von den normalen Ostdeutschen. Sie wurden selbst 1989 in der westlichen Republik immer noch von der Mehrheit als exotischer Bürgerschreck betrachtet. Während alle Welt von der Einheit Deutschlands redete, aller Orts feuchte Augen ob dieses geschichtlichen Wunders zu sehen waren, erklärten die Grünen unbekümmert: Wir aber reden vom Klima. 1990 flogen die Westgrünen aus dem Bundestag, nur zwei Ostgrüne und einige Bürgerrechtler kamen auf Grund einer Sonderwahlregelung in das gesamtdeutsche Parlament.

Deren Präsenz im Parlament, die Notwendigkeit, im Osten Fuß zu fassen und die ungefähre politische Nähe führten zu Fusionsverhandlungen der Westgrünen mit den ostdeutschen Gruppen. Es war sicher keine Liebesehe, mehr eine Vernunftehe. Die westlichen Partner haben sich richtig Mühe mit den Ostlern gegeben. Sogar den Parteinamen haben sie geändert und das Wortungeheuer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geschaffen. Sie haben den Ostdeutschen unverhältnismäßig viel Raum in den Gremien der Partei verschafft. Trotzdem blieben die Bündnisleute für die Kinder des rheinischen Kapitalismus immer Fremdlinge aus einer unbekannten Welt.

Gelassenheit

Wir Ostdeutschen in dieser Partei haben nach meiner Meinung kein Recht, unsere katastrophale politische Situation der späten 90er Jahre in Westfrust umzusetzen. Unsere Probleme haben vorrangig ostdeutsche gesellschaftliche Ursachen. Wir Türöffner von 1989 sind im Osten in Ungnade gefallen. Unsere Themen wie Demokratie, Menschenrechte und Freiheit finden kein Gehör. Das Erbe der DDR, die autoritären Prägungen wirken immer noch nach. Die eingeübten Sekundärtugenden wie Ordnung, Fleiß, Sauberkeit und Disziplin stehen seinem Herzen immer noch näher als die republikanischen Tugenden wie Toleranz, Weltoffenheit und Selbstbestimmtheit. Das politische Klima ist gegen die Bündnisgrünen. Es gibt keine verlässliche Wählerschaft, die uns über die Fünf-Prozent-Hürde helfen würde.

Ich denke, der Weg zu einer demokratischen, toleranten und weltoffenen Gesellschaft, zur pluralen Zivilgesellschaft ist noch weit. Ein längerer politischer und menschlicher Lebens- und Lernprozess wartet auf uns. Genau darin liegt die Chance für die Bündnisgrünen. Das aber braucht Zeit und Gelassenheit. Kurzfristig bringt das für uns keine Wahlerfolge, aber langfristig eine nachhaltige Veränderung der ostdeutschen Gesellschaft.

Der Autor war bis 1998 Fraktionsvorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag von Sachsen-Anhalt.
zurück