Süddeutsche Zeitung, 14. Juni 2003, Seite 6
Wir boten den Panzern die Stirn
Wie sich prominente Zeitzeugen an den Tag erinnern, an dem die SED
vor dem Sturz stand.
(Ralph Giordano, Egon Bahr, Joachim Meisner, Hans-Jochen
Tschiche, Karl-Wilhelm Fricke)
1953 wohnte ich in Ostberlin und studierte Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Westberlin.
In der DDR war ich zum Studium nicht zugelassen worden. Trotzdem wollte ich in diesem Land Pfarrer
werden. Am 16. Juni erreichten uns abends Gerüchte, dass im Zentrum der Stadt Unruhen seien.
Am anderen Morgen fuhren wir in die Leipziger Straße. Massen von Menschen standen vor dem Haus
der Ministerien. Ein paar Männer plünderten einen Kiosk und schoben sich Tortenstückchen in den
Mund. Die Menge schrie in endlosen Wiederholungen: "Spitzbart und Brille ist nicht des Volkes
Wille!" Dann dröhnten die Motoren von Panzern. Die Sowjets fuhren auf. Eine Luke öffnete sich
und der sowjetische Kommandant erschien. Er wollte offensichtlich reden. Aber die Menge brüllte:
"Iwan, damoi!" Mit hochrotem Kopf stieg er aus dem Panzer und verschwand im Haus der Ministerien.
Dann ging alles ganz schnell. Plötzlich setzten sich die Polizeiketten in Bewegung, Panzerketten
klirrten und die Massen flüchteten.
Ich war an jenem Tag 23 Jahre alt. Politische Erwartungen hatte ich nicht. Mich hatte die Neugier
an den Ort des Geschehens getrieben. Aus einem Arbeiterstreik war ein Volksaufstand geworden.
Aber nach 24 Stunden war klar, wer Herr im Hause war und die westlichen Alliierten überließen
den Sowjets und ihren Trabanten die Macht in den ostmitteleuropäischen Ländern. Ich hatte keine
Wut auf die sowjetische Besatzungsmacht. Der Kalte Krieg tobte. Jede gewaltsame Veränderung des
status quo hätte zum atomaren Inferno geführt. Schließlich hatte Deutschland den Zweiten Weltkrieg
angezettelt und blutige Spuren in ganz Europa hinterlassen. Wir Deutschen hatten kein moralisches
Recht, uns über die Gewalt der Sowjets zu empören.
Trotz dieser Erfahrung verlor ich nicht die Hoffnung, dass der Sozialismus eine Alternative
zum Kapitalismus amerikanischer Prägung sein könnte. Ich wollte nicht, dass der ostdeutsche
Staat verschwand. Aber ich wurde nicht zum Opportunisten, sondern stritt für eine Demokratisierung
des öffentlichen Lebens. Für diese Veränderung haben ich mich zur Spätzeit der DDR eingesetzt.
Nicht Feindschaft und Hass waren die Motive meines oppositionellen Verhaltens, sondern die naive
Hoffnung, dass der Sozialismus mit menschlichem Antlitz möglich sei. Ich wünschte mir in den
Folgejahren keinen erfolgreichen 17. Juni, sondern eine demokratische DDR.
Der realexistierende Sozialismus, der das Land zum großen Kasernenhof machte, erlitt 1989/90
zu recht eine verheerende Niederlage. Für die Mehrheit der Bevölkerung wurde das Wort Sozialismus
zum Synonym für das Böse. Im Jahr 2003 wird deutlich, dass der globalisierte Kapitalismus einer
Alternative bedarf.
|