Leserbrief

Betr.: "Junkermann sollte mit den Opfern reden" vom 09.12.2009

Bei der ganzen Diskussion um den Synodalbericht der Bischöfin Junkermann habe ich den Eindruck, dass ihre differenzierten Ausführungen nicht im Wortlaut zur Kenntnis genommen worden sind.

  1. Der Ruf zur Versöhnung ist nicht mehr allein die Äußerung einer unerfahrenen Landesbischöfin aus dem Westen. Die Synode – das kirchliche Parlament der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands – hat diesen Passus wie auch ihren ganzen Bericht zustimmend verabschiedet.
  2. Versöhnung schaut auf den Einzelnen. Sie meidet die Einordnung ganzer Menschengruppen in Schubladen. Sie ist keine Schlussstrich-Ideologie. Sie geht davon aus, dass jeder Mensch seine Chance bekommen muss, um ihm den Weg zur Umkehr zu eröffnen. Wer sich versöhnen will, geht auf die beschuldigte Person zu und wartet nicht auf die Ankunft des Bußfertigen.
  3. Versöhnung ist eine Grunderfahrung menschlicher Existenz. Sie kann bei Nichtchristen nicht anders aussehen als bei Christen.
  4. Die Diskussion um die Versöhnung will das Leiden der Opfer nicht wegreden. Aber für die Mehrheit der Menschen in der DDR war das Leben in diesem Land nicht ausschließlich eine schreckliche Zeit.
  5. Traumatisierte Opfer von politischer Willkürherrschaft fühlen sich nach dem Systemwechsel oft verraten und unbeachtet. Sie fürchten, dass man ihr Leiden vergisst und ihre Vergangenheit durch einen Beschluss abhanden kommt.
  6. Traumatisierung ist eine seelische Erkrankung, die den Betroffenen festlegt auf seine schlimmen Erfahrungen, die sich wie ein schmerzendes Mal in seine Seele eingebrannt hat. Selbst wenn man alle Verantwortlichen von einst wegsperren würde, würde der Traumatisierte seine Erkrankung nicht loswerden. Ich bin kein Psychologe aber ich glaube, hier braucht der Einzelne dringend einen Fachmann, der ihn zurück in den Lebensalltag führt. Dafür müssten Staat und Gesellschaft finanzielle Mittel bereitstellen.
  7. Die Opfer sollen in die Lage versetzt werden, sich von den Prägungen ihrer Seele durch ihre Peiniger frei machen zu können. Die Arbeit der Opferverbände empfinde ich als sehr wichtig, aber im Augenblick habe ich durch ihr öffentliches Auftreten den Eindruck, dass sie dazu beitragen, die Verbitterung und die Niederlagengefühle bei den Betroffenen zu konservieren. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich mich irre.

Hans-Jochen Tschiche
Satuelle

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