Leserbrief

Betr.: Artikel zur Landtagsdebatte "Kommunismus-Frage: Antrag erzürnt Linke" vom 28.01.2011

Niemand wird bestreiten, dass Lenin, Trotzki, Stalin, Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, Pol Pot und ihre Gefolgsleute im Namen der kommunistischen Ideen Millionen Menschen zu Tode gebracht und Angst und Schrecken verbreitet haben. Ihre Opfer übersteigen die Weltkriegstoten. An das Ausmaß der seelischen Schäden wage ich gar nicht zu denken.

Und doch steht in der Gründungsurkunde des Kommunismus, dem Kommunistischem Manifest, Bemerkenswertes: Die freie Entwicklung des Einzelnen ist die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller. Das ist eine Formulierung, die im Zusammenhang mit der europäischen Aufklärung steht, zu deren Ergebnis die verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechte gehören. In der folgenden früh-kapitalistischen Zeit des 19. Jahrhunderts entstand das Industrieproletariat, das die Aufklärung des 18. Jahrhunderts noch nicht im Blick haben konnte. Jetzt wurde Massenelend zum Alltag. Jetzt war Profit alles, der Menschen zu Arbeitssklaven machte. In dieser Situation ertönte das Signal, dass jeder einzelne Mensch das Recht auf freie Entwicklung hat. Die entstehende Linke forderte eine radikale Veränderung der Verhältnisse, damit auch die sozialen Menschenrechte zur Grundausstattung einer modernen Gesellschaft.

Wir leben heute in einem demokratischen Rechtsstaat, der anfänglich auch ein hohes Maß an sozialer Sicherheit bot. Aber die Zeiten haben sich nach dem Ende des Kalten Krieges geändert. Jetzt ist diese Sicherheit im höchsten Maße gefährdet. Im Haifischbecken der weltweiten Konzerne und der Finanzspekulanten herrscht der Wachstumswahn und die Profitgier, die wenig Rücksicht nehmen auf die soziale Sicherheit der Abhängigen. Angst geht in der Bevölkerung um. Der Absturz in die Armut droht vielen. Die real-existierenden ökonomischen und politischen Verhältnisse in unseren Breiten - von der übrigen Welt will ich gar nicht reden - können nicht das alternativlose Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung sein. Nicht umsonst wurde das Wort "alternativlos" zum Unwort des Jahres 2010 erklärt. Ich möchte eine Gesellschaft und eine Staatengemeinschaft, die nicht im Schlepptau jener Mächte und Kräfte stehen, die die Würde des Menschen zur Unkenntlichkeit zerbröseln lassen. Ich denke, dass die Aufgabe, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Freiheits- und Sozialrechte und das Recht auf die Erhaltung der Schöpfung noch vor uns steht. Es ist die Hoffnung auf einen Sozialismus, der nicht in die Hände von politischen Hasardeuren und Verbrechern fällt.

Was soll das die ganze aufgeregte Kommunismus-Diskussion? Die Linke von heute ist keine politische Vereinigung von Stalinisten. Natürlich sind auch noch einige bei Ihnen vorhanden, genauso wie es im bürgerlichen Lager Nationalisten und Rassisten gibt. Aber die reale Gefährdung unseres demokratischen Gemeinwesens geht nicht von der Vergangenheit aus, sondern von der Gegenwart. Die geplante Debatte im Landtag soll den politischen Konkurrenten schwächen. Sie ist, wie vieles andere im Vorfeld der Landtagswahlen, Wahlkampfgetöse, das das Grollen der beunruhigten und zornigen Leute im Lande übertönt.

Hans-Jochen Tschiche
Satuelle