Mitteldeutsche Zeitung, 24.04.2000

Lust und Last deutscher Einheit

* Besprechung zum Buch:
Reinhard Höppner: "Zukunft gibt es nur gemeinsam - Ein Solidaritätsbeitrag zur Deutschen Einheit".
Karl Blessing Verlag GmbH. München. 1.Auflage. 2000.

Der Bündnisgrüne Hans-Jochen Tschiche zu Reinhard Höppners Streitschrift "Zukunft gibt es nur gemeinsam"

Samswegen/MZ. Reinhard Höppner redet leise. Er wägt Erinnerungen. Er meidet die gängigen Urteile über unsere DDR-Geschichte. Er weiß von der Lust und der Last der zehn Jahre Deutsche Einheit und versucht, über den Horizont der Gegenwart Zukunft zu schauen.

Trotz der leisen Töne ist er kein Leisetreter. Aber vielleicht spricht er öffentlich nur das aus, was wir schon immer heimlich gedacht haben. Der Mauerbau am 13. August 1961 wird nicht einfach als Symbol des menschenverachtenden DDR-Systems beschrieben. Höppner erinnert an den Kalten Krieg, an die nukleare Bedrohung. Ein heißer Krieg hätte die Vernichtung Europas bedeutet. Die Westmächte anerkannten die Teilung Deutschlands. "Der Frieden war wichtiger als das tragische Schicksal derer, die durch die Mauer gewaltsam getrennt worden." Ich höre schon den empörten Aufschrei, dass hier die Unmenschlichkeit des östlichen Systems gerechtfertigt werde. Das tut Höppner nicht. Die Mauer bleibt auch für ihn ein Symbol der Unfreiheit. Aber er gibt zu bedenken, was die Politiker im Westen und im Osten damals umtrieb.

Eine Destabilisierung entlang der Grenzen des Kalten Krieges konnte zum Atomkrieg führen. Den wollte keiner. Der gebrechliche Frieden der gegenseitigen Abschreckung und der gegenseitigen Anerkennung der Einflusssphären waren dem atomaren Inferno alle Mal vorzuziehen. Der zweite Weltkrieg, vom Deutschen Reich angezettelt, hat zu dieser Teilung der Welt geführt. Die Zeit war noch nicht reif zu Annäherung. 1961 ist noch tiefste Nachkriegszeit.

Mutig, habe ich gesagt, ist der Mann Höppner, der die Realität dieses Jahres beschreibt. Ich kann seiner Deutung nur zustimmen. Ich meine nicht, dass damit die östlichen Zwingherren von damals eine Rechtfertigung für die Menschenrechtsverletzungen erhalten. Krenz & Co. können sich zu ihrer Rechtfertigung auf keinen Fall auf den Kalten Krieg berufen. Krieg war nicht, aber die Unterdrückung im Lande blieb. Die Freiheitsrechte wurden auf dem Altar der Machterhaltung der SED geopfert.

Höppner wirbt angesichts dieser Situation um Verständnis, dass "sich jeder auf seine Art und in unterschiedlicher Weise" notgedrungen anpasste, um die DDR nicht nur als großes Gefängnis, sondern auch als Lebensraum für sich zu erleben. An dieser Stelle muss ich daran erinnern, dass Reinhard Höppner aus einem Pfarrhaus kommt, die Gefahren und Privilegien dieser Herkunft kennt und viele Jahre als Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen wirkte.

Er gehörte zu denen, die den Mächtigen der DDR in der Regel nicht öffentlich widersprachen. In vertraulichen Gesprächen versuchten Mitglieder der Kirchenleitungen wie er den Gestaltungsraum der Kirchen zu erhalten, die ideologische Indoktrination der Staatsideologie zu mildern und unliebsame Oppositionelle zu schützen. "Die Kirchenleitung haben sich in der Regel vor die Gruppen gestellt, selbst wenn sie sich im Blick auf deren Anliegen manchmal nicht hinter sie stellen konnten." Hier zeigt sich ein Konfliktfeld zwischen der DDR-Opposition und der Amtskirche.

Höppner denkt in eine andere Richtung. Er will die Anpassung als menschliche Leistung beschreiben und damit Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle unter den Ostdeutschen abbauen. Es scheint seine innere Distanz gegen Aufbegehren und Weggehen durch. Die Ausreiser galten mitunter als Leute, die vor den Problemen davonliefen. Es ist der Streit, der zwischen Exilanten und Dagebliebenen auch nach dem Ende des Dritten Reiches geführt wurde. Höppners kritische Sicht auf die Weggegangenen hat einen leicht diffamierenden Unterton. Er lobt die Gebliebenen. "Sie wollten die DDR nicht nur verstehen als ein Wartesaal für bessere Zeiten." Ich bin diesen Deutungen gegenüber skeptisch. Dass Menschen im privaten Bereich und in den Nischen kleiner Zirkel ein erfülltes Leben finden konnten, ist unbestritten. Aber der öffentliche Raum war verseucht von ideologischer Machtarroganz und hier war Anpassung nur Unterwerfung.

1968, Helsinki-Prozess, Suche nach der kulturellen Identität der DDR, Olof-Palme-Marsch und Wende - viele Stationen auf dem Weg vom Kalten Krieg zur Nachkriegszeit. Es lohnt sich alle Mal, das nachzulesen.

Zehn Jahre Einheit umschreibt der mittlere Teil des Buches. Dabei behandelt Höppner ein Thema, das ihn umtreibt: Die Stasi-Akten und die Lebenswirklichkeit. Offenbar hält er heute die Öffnung der Akten für falsch. Die Bösen und die Guten aus DDR-Zeiten mit Hilfe von Kommissionen zu unterscheiden, die die Stasi-Unterlagen allein benutzten, sei vergebliche Liebesmühe gewesen. "Wir können das Jüngste Gericht nicht in der deutschen Geschichte verwirklichen. Kein Mensch ist in seiner vierzigjährigen Geschichte nur gut oder nur böse. ...Wer die DDR-Geschichte kennt, weiß, dass keiner das Recht hat, Steine zu werfen."

Kritische Selbstbetrachtung ist wirklich nötig. Aber das ist kein Grund, die Soße der Versöhnung über alles und alle zu gießen. Ich habe den Eindruck, dass zu zeitig mit dem Mantel der Liebe gewedelt wird. Sicher, auch er hält die Schlussstrich-Diskussion für unsinnig. Aber wird sie nicht immer wieder angeheizt, wenn der Umgang mit den Stasi-Akten als Jüngstes Gericht von Eiferern diffamiert wird?

Im dritten Teil redet Höppner über die Zukunft. "Wenn wir nach Maßstäben für die Zukunft fragen, werden wir aber auch nach der Zukunft von Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden fragen müssen...Ich sehe mich dazu jeden falls als Sozialdemokrat und Christ in besonderer Weise gefordert."

Dabei hat Höppner keine perfekten Lösungen zu bieten. Er wirkt wie ein Sucher in unübersichtlichem Gelände. Es fällt auf, dass ihm Luther dazwischenredet und biblische Bilder ihn überfallen. Von der Arbeit als weltlicher Gottesdienst bis zu Abrahams Schoß kann man ihre Spuren verfolgen. Sympathische Ratlosigkeit, die sich das Hoffen nicht verbieten lässt. Ein Mensch, der den kleinen Schritt wagt, obwohl er den großen nicht kennt. Protestantische Unrast treibt ihn um, die werkeln will. Katholische Gelassenheit ist ihm fremd. Unruhig läuft er am Ufer hin und her, und dann wagt er doch den Schritt. "Wir gehen auf dünnem Eis, leben in einer gefährdeten Welt. Aber ich glaube daran: Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Wir müssen nur mit wachen Sinnen danach suchen. Das Suchen und Finden ist unsere Lebensperspektive am Beginn eines neuen Zeitalters... Ich glaube an die Verheißung, die Gott dem Urvater Abraham gegeben hat: ‚Mach dich auf und geh in das Land, das ich Dir zeigen werde'".