Horch und Guck, Heft 42 (ISSN 1437-6164)

Auf der Suche nach einer neuen Identität
DDR-Oppositionelle im vereinten Deutschland

* Besprechung zum Buch:
E.Hesse [Hg]: "Eine Revolution und ihre Folgen - 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz".
Christoph Links Verlag - LinksDruck GmbH; 2.Auflage; Berlin 2000
ISBN 3-86153-223-9

Vier Frauen und zehn Männer aus dem Osten Deutschlands ließ der Professor für Politikwissenschaften Eckhard Jesse in einer Vorlesungsreihe der Technischen Universität Chemnitz, jener Stadt, in der der gewaltige Kopf von Karl Marx, vom Volk Nischel genannt, immer noch vor sich hin denkmalt, vom Oktober 1999 bis zum Februar 2000 zu Wort kommen. Diese Ringvorlesung und das jeweilige Echo in der lokalen Zeitung "Freie Presse" stellt er zusammen mit zwei ausführlichen eigenen Beiträgen in einem Buch vor. Sein Titel: Eine Revolution und ihre Folgen; 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz; Jens Reich, Konrad Weiß, Marianne Birthler, Vera Lengsfeld, Günther Nooke, Wolfgang Templin, Markus Meckel, Ehrhart Neubert, Freya Klier, Rainer Eppelmann, Edelbert Richter, Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer, Joachim Gauck.

Wer die Referenten aus den 80er Jahren kennt, wundert sich sehr, wo manche unterdessen politisch angekommen sind. In jenen Herbsttagen, zwischen Anfang September und Anfang November 1989, hingen sie alle noch der linken Hoffnung an, dass ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz gesellschaftliche Wirklichkeit werden könne. Vom dritten Weg zwischen der real existierenden DDR und der real existierenden Bundesrepublik Deutschland, zwischen dem Kasernenhofkommunismus und dem sozialstaatlich gebändigten Kapitalismus war zu dieser Zeit die Rede. Dieser einstige Grundkonsens wird von keinem Vortragenden bestritten. Aber dann beginnen ihre politischen Biografien sich voneinander und von ihren Herbstträumen zu entfernen. Sieben von vierzehn Porträtierten wandern in das konservative Lager. Rainer Eppelmann war schon sehr früh bei der CDU angekommen. Andere folgten ihm in einem spektakulären Übertritt zur selben Partei im Jahr 1996. Am auffälligsten erscheint mir der Wandel bei Vera Lengsfeld. Tochter eines hochrangigen MfS-Offiziers, Philosophie-Studentin, SED-Mitglied, bricht sie in den 80er Jahren die Brücken zu ihrer Herkunft ab. 1989 ist sie Mitbegründerin der Grünen Partei der DDR. Nach ihrer Abwanderung ins konservative Lager zitiert sie, ohne einen Moment zu stutzen, einen Brief von Ernst Jünger an Carl Schmitt, beide in den 20er Jahren rechte Wegbereiter der Nationalsozialisten. Sie hasst die deutsche Linke. Das zögerliche Zugehen dieser Elite, der so genannten 68er, auf die deutsche Einheit macht sie ganz wütend. "Die meisten deutschen Hoch- und Halbintellektuellen mögen das Volk nicht, die linke politische Klasse ist von seinem Volk 1989 tief enttäuscht worden." (S.85) Joachim Gauck teilt mit ihr die Ablehnung, nicht den Hass. Mit ironischem Unterton erinnert er sich daran, dass westliche Pastoren auf linksprotestantischem Weg seinen Wandel befördert haben. "Es war dann immer bewegend, wenn uns Hamburger oder Nürnberger Pastoren lehrten, wie nützlich der Sozialismus für die armen Menschen in Südamerika und Afrika sei." (S.243) Ihn macht nicht stutzig, dass nach dem Ende des sowjetischen Imperiums und dem Sieg des Westens das Elend in jenen Kontinenten eher größer wurde, als zurückgegangen ist.

Ich kann den Großbürgerssohn Jens Reich, polyglott und hoch gebildet, gut verstehen, dass ihm die muffige Atmosphäre des an die Macht gelangten Kleinbürgertums der kommunistischen Funktionärseliten auf den Geist ging. Ihre Engstirnigkeit, Rachsucht und monokausale Weltsicht lösten bei ihm Abwehr und Ekel aus. Er fand Nischen, in die er ihnen ausweichen konnte. "Ich habe mich in der DDR nie zu Hause gefühlt." (S.27) Aber er sieht nicht rot, wenn er das Wort Sozialismus hört. "So ist die Frage nach einem anderen Verlauf des sozialistischen Experimentes in Deutschland, wenn seine Vertreter seine Ideale nicht mit Füßen getreten hätten, durchaus offen. Im Jahrzehnt zwischen 1990 und 2000 war sie gegenstandslos, - aber wer weiß, ob die sozialistische Vision in geänderter Form nicht wieder aufkommt, wenn es keine Praxis mehr gibt, gegen die ihr Versagen augenfällig messbar ist." (S.34)

Niemand der vierzehn Referentinnen und Referenten bedauert das Verschwinden der DDR. Aber nicht alle teilen die Zufriedenheit Günther Nookes: "Alle wesentlichen Erwartungen vom Herbst 1989 sind erfüllt wurden ... Wir haben allen Grund zur Zufriedenheit, ja zur Freude!" (S.104/105) Im Chor der Zufriedenen wirkt die Stimme Edelbert Richters eher störend. Er hat keinen Linksschwenk vollzogen, wie Eckhard Jesse meint. (S.202) Er war schon immer so. Er hält den Sieg des Neoliberalismus nordamerikanischer Prägung nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums für eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ideale Westeuropas, des alten Europas, wie der amerikanische Verteidigungsminister höhnend sagte. Es geht Richter um den Bestand der sozialen Marktwirtschaft und eine sensible Integration des Ostens. Diese Strategie müsse sich immer dann zeigen, "wenn es um die Verteidigung des Sozialstaates gegen die globalisierte Wirtschaft oder die Verteidigung des öffentlichen Sektors überhaupt gegen Privatisierungs- und Deregulierungsdruck geht." (S.205) Richter steht genau gegen das, was man heute modern nennt und wie ein göttliches Schicksal über sich ergehen lässt. "Wenn die DDR-Opposition von einst nicht ein Museumsstück werden will, sollte sie in dieser Richtung weiterwirken." (S.205)

Aber er bleibt ein einsamer Rufer in der Wüste. Andere verkämpfen sich im Streit um die PDS. Freya Klier hängt immer noch Verschwörungstheorien an. Überall sieht sie alte Seilschaften wirken. Der Hass gegen die PDS sitzt tief. Noch einmal zitiere ich Vera Lengsfeld: "Die Linke koppelt sich von ihrer realen Geschichte ab und wäscht sich rein durch flottes Distanzieren von ihrer verbrecherischen Vergangenheit." (S.80) Sicher gibt es unerträgliche Rechthaberei in dieser Partei, aber in keiner Partei, die zu DDR-Zeiten bestand, gab es nach `89 so viel Selbstkritisches zu hören, wie in dieser. Ich muss gestehen, dass mich der demokratische Eifer der frisch bekehrten Genossinnen und Genossen manchmal nervt. Aber die sozialistische Linke gehört zur westeuropäischen Demokratie. Ich kann daher Eckhard Jesse nicht zustimmen, wenn er die PDS als linksextremistische Kraft bezeichnet. "Keine der Referentinnen und Referenten ist der PDS beigetreten ... insofern ist der antiextremistische Konsens gewahrt." (S.14)

Mein Widerspruch kommt nicht aus einer ideologischen Nähe zu dieser Partei, sondern hat einen anderen Grund. Der Herbst'89 war nicht die Zeit der Abrechnung mit den DDR-Eliten. Für mich implodierte ein von innen verfaultes System. Mir fällt in diesem Zusammenhang immer die biblische Geschichte vom Fall der Mauern Jerichos ein. Sieben mal zogen die Isrealiten Posaunen blasend um die befestigte Stadt, dann fielen die Mauern ein. Die Feierabenddemonstrationen in jenen Herbsttagen wären ohne Erfolg geblieben, hätte sich das System nicht selbst aufgegeben und die Mauern geöffnet. Die alten Eliten der DDR wurden nicht von einer Revolution hinweggefegt, sondern sie warfen den Bettel einfach hin. Nach diesem Ende der DDR gilt es, seine Eliten zu integrieren. Ihre alten Führungskader hatten sie selbst in die Wüste geschickt. Die übrigen Mitglieder mussten jetzt in den politischen Prozess einer parlamentarischen Demokratie einbezogen werden, falls sie nicht ganz und gar unpolitisch geworden waren. So viel auch nach 1989 misslungen ist, dieser Integrationsprozess ist auf einem guten Wege.

Erstaunlich ist, dass die Vertreter der innerparteilichen Opposition und der Vereinigten Linke in der Erinnerung an den Widerstand in der DDR überhaupt nicht auftauchen und auch in Chemnitz nicht zu Wort gekommen sind. Jedenfalls glaube ich, dass die eigentliche Geschichte der Widerständigen in der DDR noch geschrieben werden muss.