Außer Atem

1988 - es lag etwas in der Luft. Die Mächtigen der DDR wirkten sehr nervös und ein wenig außer Atem. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg und stieg. Tausende wurden aus der Staatsbürgerschaft des Landes entlassen und gingen nach dem Westen - in die BRD, sagten die Funktionäre, ins NSW - nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet der Geheimdienst. Aber der Druck im Innern blieb.

Auf den Ostdeutschen hockte der stalinistische Alptraum. Trotzdem trug der Name „Sozialismus“ Hoffnung in sich. In den frühen Nachkriegsjahren glaubten viele, im Osten sei das bessere Deutschland. Es sei endlich aufgeräumt mit der kapitalistischen Welt, die als Inbegriff alles sozialen Elends und aller Kriege des letzten Jahrhunderts galt. Ich war stark von dieser Gewissheit geprägt. Der Prager Frühling 1968 nährte in mir die Hoffnung, daß die Demokratisierung in Ostmitteleuropa und Ostdeutschland möglich sein könnte.

Als die Panzer rollten, war mir klar, daß die Funktionärseliten es nicht richten werden. Die Veränderung werde aus der Mitte der Gesellschaft wachsen, war meine Überzeugung. Die Selbstsicheren stören, ihre sozialistische Besserwisserei zum Narren halten, Sand im Getriebe sein, war meine Empfehlung auf einem Kirchentag in Stendal im Herbst 1968. Die Aufregungen waren groß und die Drohungen auch.

Ich gehörte zu denen, die die Westdeutschen später einmal Bürgerrechtler nennen sollten. Wir wollten einen demokratischen Staat, eine friedliche Welt und eine unversehrte Umwelt. Unter den Dächern der Kirchen hatten wir uns in kleinen Gruppen gefunden. Jetzt wollten wir die Schutzdächer der Kirchen verlassen, uns organisieren. Wir wollten eine politische Kraft werden.

Ich war Leiter der Evangelischen Akademie Sachsen- Anhalt. Sie war zu dieser Zeit ein Ort, an dem der aufrechte Gang geprobt, den Mächtigen deutlich widersprochen wurde. Anpassen war nicht unser Thema, sondern sich widersetzen. Kirchliche und staatliche Obere runzelten nicht nur die Stirn, sie versuchten mich schon seit Jahren zu vertreiben.

Zwei russische Worte machten damals die Runden: Glasnost und Perestroika - Offenheit um Umbau. Sie kamen aus dem Munde des mächtigsten Mannes des Ostblocks, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Endlich schien die Zeit herangereift, daß wir dem leeren Gedröhn verlogener Phrasen entgehen konnten und uns einen unverstellten Blick auf die Wirklichkeit verschaffen durften. Wir wollten uns nichts von des Kaisers neuen Kleidern erzählen lassen. Seine ganze elende Nacktheit sollte endlich an den Tag kommen. Wir mußten benennen, was ist, damit wir endlich mit Veränderungen beginnen konnten.

Diese Form der Aufklärung sahen wir uns in der Evangelischen Akademie verpflichtet. Alles, was ihr diente, haben wir versucht - schon seit Anfang der achtziger Jahre. Wir haben Schriftstellerinnen und Schriftstellern ein Podium bei uns geboten. Um den Eingriff des Staates zu erschweren, der nur religiöse Themen dulden wollte, hatten wir uns einen schrecklich klingenden Titel für die Veranstaltungen ausgedacht: „Christen hören die Stimmen der Künstler unserer Zeit“. Es schüttelt mich immer noch, wenn ich das lese, aber es hat uns wenig genützt. Zweimal sollte ich eine Ordnungsstrafe bezahlen. Ich habe mich geweigert, trotzdem konnten wir diese Reihe durchführen.

Viele bekannte Autorinnen und Autoren haben bei uns gelesen: Christa Wolf, Stefan Heym, Helga Schubert, Günter de Bruyn, Helga Schütz, Stephan Hermlin, Helga Königsdorf, Rainer Kirsch, Elke Erb und viele mehr. Ich wußte natürlich, daß die Dichtkunst einem anderen Maßstab verpflichtet ist, als vordergründigem politischen Handeln. Aber wir haben uns ihre mehr oder weniger widerspenstigen Vertreter gegen die offizielle Kulturpolitik geholt, um nach dem ästhetischen Genuß auch ihrer Widerspenstigkeit zu gedenken. Vielleicht muß ich mich heute bei manchen von ihnen entschuldigen, daß wir ihre Leistung in ihrem eigentlichen Handwerk für andere, unmittelbar politische Zwecke genutzt haben. In schlimmen Zeiten der Unterdrückung sind ungehörige Wege manchmal nötig. Und ich denke, die Autorinnen und Autoren haben es trotz allem genossen, vor einem Publikum zu lesen, daß ihnen mit hohen Erwartungen begegnete.

Und Günter Grass? Ich zitiere aus den Akten der Staatssicherheit. Für die Sprache kann ich nichts. Aber meinem Erinnerungsvermögen haben sie auf die Sprünge geholfen. ZOV „Symbol“, TV „Spitze“ bin ich. Da heißt es dann: „Im Prozeß eingesetzter politisch- operativer Kontrollmaßnahmen zum ZOV ‘Symbol’, TV ‘Spitze’ wurde intern in Ergänzung der Operativ-Information Nummer 72/ 87 erarbeitet, daß der Schriftsteller Grass, Günter / WB bei Veranstaltungen im Rahmen der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Halle und Magdeburg aus seinen Büchern ‘Die Blechtrommel’ und ‘Die Ratten’ lesen wird. Die Übernachtung wird bei dem Leiter der Evangelischen Akademie Pfarrer Tschiche, Hans-Jochen, erfaßt für BV Magdeburg, Abt. XX/4, erfolgen. Durch die Abteilung XX/4 der BV Magdeburg sind Maßnahmen zur inoffiziellen Absicherung und Informationserarbeitung zum Auftreten des Grass während der EAK - Veranstaltungen im geplanten Reisezeitraum (18.-24.04.1998) eingeleitet.“ An anderer Stelle kann man lesen: „Die jetzt angekündigte und wahrscheinlich nicht mehr vermeidbare Lesereise von Grass bei der evangelischen Akademie müßte im Interesse unserer Sicherheitsbedürfnisse die einzige bleiben, die außerhalb des staatlichen Einflusses bleibt.“

Groß war die Literaturkenntnis von XX/4 sicher nicht. Ob „Die Ratten“ oder „Die Rättin“ - offenbar war eine Bedrohung für die DDR im Anmarsch. Eine gewisse Komik ist nicht zu übersehen. Günter Grass kam also und setzte einen Riesenapparat der Sicherheitsbehörden in Bewegung. Das waren wir gewohnt. Überwältigend waren für uns die überfüllten kirchlichen Räume an den vier Orten seiner Lesungen in Magdeburg, Halle, Erfurt und Jena. Für einen Staat, der durch Macht alles regeln wollte, muß es schon bedrohlich gewesen sein, daß er diese Lesereise in eines der Zentren politischer Widerborstigkeit nicht verhindern konnte. Für uns war der Vorgang eine unglaubliche Ermutigung auf dem Wege zur inneren Veränderung der DDR.

Nervös und außer Atem reagierten die Machtzentren in unsrem Land auf das unterirdische Beben dieser Zeit. Aber wer hätte geahnt, daß ein Jahr nach der Abreise von Günter Grass der Staat, den wir reformieren wollten, zwar nicht juristisch, aber faktisch schon abhanden gekommen sein würde. Das Ende des vormundschaftlichen Staates ist uns allen bekannt. Er ist an seiner eigenen Überheblichkeit gestorben. Es war alles ganz anders geworden, als ich gewollt habe. Dem Sozialismus sei die Totenglocke geläutet worden, meinten Viele. Der Konkurrent des Kapitalismus hatte vorerst seine Rolle in Europa ausgespielt. Ich klage nicht, ich stelle nur fest. Der Kalte Krieg ging zu ende. Der Ostblock zerbrach. Die Sowjetunion zerfiel. Ganz schnell wollten die Ostdeutschen nicht mehr das Volk sein, sondern sie wollten ein Volk sein.

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