Wegmarkierungen
Vom Bündnis 90
zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Neue Forum sah sich 1989 bei seiner Gründung als eine
Bürgerbewegung, die die Mächtigen der DDR bei ihrer Machtausübung kritisch
begleiten wollte. Seine Mitglieder wollten zu dieser Zeit die Demokratisierung
des ostdeutschen Teilstaates aber nicht seinen Anschluß an Westdeutschland. Die
Bürgerbewegten haben sich entschlossen geweigert, die Macht, die auf der Straße
lag, aufzuheben. Nach Machtausübung zu streben, sahen viele als außerordentlich
suspekt an. Deshalb hat sich das Neue Forum unglaublich schwer getan, sich eine
Organisationsform zu geben, die es im März 1990 zu der Volkskammerwahl
wählbar machte. Im Übrigen hatte sich die Mehrheit der Ostdeutschen bei dieser
Wahl entschieden, den Regierungsparteien Westdeutschlands auch in der damaligen
DDR ihre Stimme zu geben. Sie erhofften sich einen schnellen Anschluß an die
westliche Bundesrepublik und ihren Wohlstand. Eine angeschlagene Ost-SPD, deren
Wahlergebnisse weit unter ihrer Erwartung geblieben war, machte sich
entschlossen und unentschlossen zugleich mit den Konservativen zum
Geburtshelfer der deutschen Einheit. Das Ergebnis war die Sturzgeburt des
Einigungsvertrages, an dessen Folgen wir heute noch tragen.
Die zwanzig Abgeordneten der Bürgerbewegungen und der
Ost-Grünen konnten auf diesen Prozeß keinen Einfluß nehmen. Sie betätigten sich
im Herbst 1989 zwar als Türöffner für einen neuen politischen Raum in
Ostdeutschland, aber die Politik haben andere gemacht. Die Bürgerrechtler und
die Umweltlobbyisten waren zu DDR-Zeiten eine kaum wahrzunehmende Minderheit in
der DDR-Gesellschaft. Die stürmischen Herbsttage des Jahres 1989 konnten für
einen Augenblick über diese Wirklichkeit hinwegtäuschen. Die März-Wahlen
rückten das Bild wieder zurecht. Die Tradition der Bürger- und Freiheitsrechte
hatten wenig Unterstützung. Die jahrhundertealte Prägung autoritären und
obrigkeitsstaatlichen Denkens und Handelns drängte die Bürgerrechtler an den
Rand der weiteren Entwicklung in Ostdeutschland.
Im Winter 1990 handelten sich die westlichen Grünen wegen
ihrer Arroganz gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung eine verheerende
Niederlage bei den Bundestagswahlen ein. Sie glaubten, wenn alle Welt von
Deutschland rede, dann könnten sie vom Klima reden. Sie flogen aus dem
Bundestag. Die gemeinsame Liste der Bürgerrechtsbewegungen und der Ost-Grünen
dagegen kamen als Splittergruppe in den Bundestag, weil für diese Wahl das
Gesetz die Aufteilung der Wahlgebiete in Ost- und Westdeutschland vorsah. So
hatten die ostdeutschen Gruppen und Parteien, die keine Westhochzeit gefeiert
hatten, eine Chance in den Bundestag zu gelangen. Auch die PDS profitierte
davon.
Spätestens jetzt wurde klar, wer im parlamentarischem
Getriebe mitarbeiten wollte, musste bei der nächsten Bundestagswahl eine
gesamtdeutsche Organisation erreicht haben. Um bei der Partnerwahl möglichst
stark zu sein, mussten die ostdeutschen Bürgerrechtsbewegungen sich
zusammenschließen, damit sie ihre Interessen wirksamer bei einer künftigen
gemeinsamen Partei durchsetzen konnten. Neues Forum, Demokratie Jetzt und die
Initiative Frieden und Menschenrechte schlossen sich im Herbst 1991 zum
Bündnis 90 zusammen.
Die sehr schwachen Ost-Grünen wurden sehr schnell Teil der
westdeutschen Grünen und waren nie ernsthafter Partner dieser Partei. Deshalb
suchte die alternative Partei der Grünen einen echten Partner im Osten und
meinte ihn im Bündnis 90 gefunden zu haben. Die Grünen sind die westdeutsche
Nachkriegspartei, aus sozialen Bewegungen und K-Gruppen hervorgegangen
verkörpern sie eine politische und soziale Szene, die es so im Osten nie
gegeben hat. Die renitenten Bürgerkinder einer urbanen Kultur probten im Westen
den Aufstand gegen die gedankenlose und konservative Wohlstandsgesellschaft
ihrer Eltern. Ostdeutschland hat sie nie besonders interessiert. Es sei denn,
dass einige ihrer linken Vertreter sich die DDR schön gesehen haben. Das
kleinbürgerliche, spießige und autoritätshörige Klima der ostdeutschen
Gesellschaft hat sicher bei den West-Grünen Belustigung und Brechreiz zugleich
hervorgerufen. Aber die Grünen benötigten einen ostdeutschen Partner, um sich
in der größer gewordenen Bundesrepublik zu behaupten. Die Bürgerbewegten von
Bündnis 90 schienen ihnen als einzig möglicher Partner in Frage zu kommen.
Die Widerständigen gegen das autoritäre DDR-Regime erinnerte sie an ihre eigene
Widerständigkeit gegen die saturierte Wohlstandsgesellschaft. So kam es, dass
sie und Bündnis 90 sich auf einen Prozeß einließen, damit das
zusammenwachsen konnte, was ursprünglich nicht zusammengehörte. Die
westdeutschen Partner haben sich bei den Verhandlungen über den Zusammenschluß
von Bündnis 90 und den Grünen unglaubliche Mühe gegeben. Sie haben ihren
Parteinamen geändert und die Ostdeutschen an die erste Stelle gesetzt. In den
Gremien der neuen Partei wurden die Ostdeutschen privilegiert behandelt. Obwohl
das Mitgliederverhältnis etwa 40.000 zu 3.000 betrug, scheute man keine Mühe,
die Gleichberechtigung in den Verhandlungen zu bewahren. Es sollte sich
herausstellen, dass die kulturelle Fremdheit zwischen den westdeutschen Grünen
und den ostdeutschen Bürgerrechtlern dazu beitrug, den zwischen den Partnern
1993 ausgehandelten und beschlossenen Grundkonsens zu gefährden. Ein starker
konservativer Flügel unter den Ostdeutschen verließ nach und nach die Partei.
Bündnis 90/Die Grünen sind im Osten nie richtig in
den Tritt gekommen. Saßen 1990 in allen Landesparlamenten Leute aus deren
politischem Spektrum, verloren sie 1994 alle Landtagsmandate bis auf
Sachsen-Anhalt. Das war aber eher bestimmten Glücksumständen als der besonderen
politischen Stärke des Landesverbandes zu verdanken. Seit 1990 liefen ihnen in
allen ostdeutschen Ländern die Wählerinnen und Wähler davon. Die absoluten
Zahlen haben so dramatisch abgenommen, dass Bündnis 90/Die Grünen im
Osten marginalisiert worden sind. Zwei Gründe sind dafür verantwortlich. Die
Bündnisleute sind wie der lebendige Vorwurf gegen das Anpassungsverhalten an
die DDR-Bedingungen, das von der Mehrheit der Ostdeutschen praktiziert worden
ist. Die Widerständigen von damals machen ein schlechtes Gewissen. Dafür werden
sie heute abgestraft. Zugleich aber gehören die ostdeutschen Bündnisgrünen
einer gesamtdeutschen Partei an, die in einer kleinbürgerlich bestimmten
Gesellschaft kein Wählerklientel findet. Der normale Ostdeutsche kann sich
damit arrangieren, dass die PDS in Landesregierungen einrückt, aber die
Bündnisgrünen lösen bei ihm nur Missbehagen und Unverständnis aus.
Je stärker der ostdeutsche Teil der Partei schwächelt, um so
mehr geht sein Einfluß in der Gesamtpartei zurück. Das ist nicht etwa die Folge
der Böswilligkeit der Westdeutschen, somdern der ostdeutschen Erfolgslosigkeit,
für die man nicht andere verantwortlich machen sollte. Zehn Jahre nach der
Gründung von Bündnis 90 in Ostdeutschland verlieren sich seine besonderen
Spuren bei den Bündnisgrünen, weil der Wechsel von der Industriegesellschaft
zur globalisierten Informationsgesellschaft eine so unglaubliche Herausforderung
für die Politik insgesamt und für Bündnis 90/Die Grünen insbesondere
bedeutet, dass die nölige Klage über die vergessenen Ostdeutschen und ihre
Wendegeschichten die Partei mehr nervt als aufschreckt. Aber auch die Bedeutung
der Grünen im Westen ist im Schwinden begriffen. Seit dem Parteitag im März
1998 in Magdeburg verliert sie eine Wahl nach der anderen. Von dem dritten
Platz in der Wählergunst droht sie auf den fünften Platz zurückzufallen –
hinter die FDP, was die Westdeutschen besonders schmerzt – und hinter die PDS,
was die Ostdeutschen besonders kränkt. Die Beteiligung einer kleinen Partei an
der Regierung tut ihr dann nicht gut, wenn es real Alternativen zu dieser
Machtkonstellation gibt. Die SPD, aber auch die Bevölkerung meint, es gäbe
solche Alternativen zu der jetzigen Koalition. Der Weg von einer radikalen
oppositionellen Bewegung zu einem kleinen Koalitionspartner führt zu
Veränderungen, die manche Weggefährten nicht mehr mittragen können. Nur wenn
die Bündnisgrünen eine größere und stabilere Minderheit an sich binden können,
bleiben sie im politischen Geschäft der parlamentarischen Demokratie. Deshalb
sollten an vier Forderungen in dem gesellschaftlichen Umbruch festgehalten
werden:
- Rettet die soziale Gerechtigkeit vor dem entfesselten Markt,
- Rettet die natürlichen Grundlagen des Lebens vor der unverantwortlichen Ausbeutung,
- Rettet die Freiheitsrechte vor dem populistischem Geschrei nach der inneren Sicherheit und
- Rettet die Friedfertigen unter den Deutschen vor der Gewöhnung an militärische Lösungen im Konfliktfall.
In diesen vier Forderungen werden die unterschiedlichen
Wurzeln der ostdeutschen und westdeutschen Teile von
Bündnis 90/Die Grünen aufgenommen und fortgesetzt. Im politischen
Tagesgeschäft wird es Umwege und Streit um die Umwege zu diesen Zielen geben.
Schmerzhafte Kompromisse bleiben nicht aus. Wenn Machtausübung und
Glaubwürdigkeit auf diesen Feldern der kleinen Schritte beieinander sind,
bleiben Bündnis 90/Die Grünen in Ost und West eine alternative
Partei, die es zu wählen lohnt.
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