Streitfall: Deutsche Einheit
Zur Auseinandersetzung um soziale, gesellschaftliche und politische Aspekte
des Vereinigungsprozesses
I. Die Bundesrepublik war auf die deutsche Einheit nicht vorbereitet.
Das
geeinte Deutschland war gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts eine fortwährende politische und militärische
Bedrohung für seine Nachbarn. Die Aufteilung der Welt in zwei Machtblöcke unter
der Vorherrschaft der USA und der Sowjetunion als Folge des von Deutschland
verursachten zweiten Weltkrieges war daher nach 1945 die Grundvoraussetzung für
realistisches politisches Handeln. Alle waren überzeugt, wer an dieser
Nachkriegssituation etwas ändern wollte, drohte einen nuklearen Weltkrieg
heraufzubeschwören. Den Siegermächten in Ost und West konnte die deutsche
Teilung unter diesen Umständen nur recht sein.
Interessenausgleich
und gegenseitige vertragliche Bindungen waren nach dem heißen Kalten Krieg, der
Zeit der ideologischen und nuklearen Drohungen, die politische Strategie, die
Amerikaner und Russen in Europa verfolgten. Die Einheit Deutschlands konnte
sich aber auch dann niemand vorstellen. Die Mächte hatten sich in der
Nachkriegssituation eingerichtet. Die Räumung der DDR durch die Sowjetunion war
undenkbar. Die Nachkriegsordnung schien auf lange Zeit festgeschrieben zu sein.
So
sah auch die Politik der Bundesrepublik zu dieser Zeit aus. Für die führenden
westdeutschen Politikerinnen und Politikern war unbestritten, daß es zur
Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten nicht mehr kommen würde.
Erleichterungen für die hinter der Mauer und Stacheldraht lebenden Ostdeutschen
war das Ziel ihrer Politik. Das konnte nur erreicht werden, wenn man den
Mächtigen im Osten politische Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung zu
Teil werden ließe. Verträge sollten die Staatsmacht dazu bringen, den Alltag
der Bevölkerung zu erleichtern. Zu dieser Politik gab es offenbar keine
Alternative. Durch die Sozialdemokraten unter Willy Brandt etabliert, wurde sie
unter Helmut Kohl fortgesetzt. Noch 1987 begrüßt der Bundeskanzler der
Bundesrepublik Deutschland den Staatsratsvorsitzenden der Deutschen
Demokratischen Republik mit einem richtigen Staatsempfang. Beide Fahnen sind
gehißt, beide Hymnen werden gespielt, der schwergewichtige Kohl und der
leichtgewichtige Honecker schreiten die übliche Ehrenformation ab. Zur
Stabilisierung des ostdeutschen Staates hatte schließlich Franz- Joseph Strauß
noch eine Finanzspritze von 1 Mrd. DM organisiert. Das waren
unübersehbare Signale, daß die Deutschen Ost und die Deutschen West in zwei
verschiedenen Staaten lebten. So setzte dann folgerichtig eine Debatte ein, ob
nicht die Staatsbürgerschaft der DDR anerkannt werden sollte. Die Bürgerinnen
und Bürger dieses Staates wären dann für die Bundesrepublik Ausländer, wie es
die Österreicher bereits waren. Zwar blieben die westdeutschen Sonntagsreden
von der Einheit des deutschen Volkes, aber nicht einmal das gesamtdeutsche
Ministerium hatte, wie sich später herausstellen sollte, einen Plan in seinem
Schubkasten, der beschrieb, was geschehen sollte und müßte, wenn es denn zur
Einheit käme.
In
der Bundesrepublik Deutschland wurde zwar sicher auch noch in den 80er Jahren
von der deutschen Einheit laut gesprochen, aber niemand glaubte, daß sie in
einem überschaubaren Zeitpunkt eintreten würde.
II. Die DDR-Opposition wollte den Staat demokratisieren
Sicher
gab es in den frühen Nachkriegsjahren Oppositionelle, die die Einheit
Deutschlands wollten und den werdenden sozialistischen Staat ablehnten. Manche
wanderten in die Gefängnisse und Zuchthäuser. Millionen verließen das Land,
weil sie den politischen Druck nicht mehr aushielten.
Aber
nach dem Bau der Mauer 1961 begannen die Leute sich einzurichten. Die
schweigende Mehrheit zog sich in private Nischen zurück und bestaunte am Abend
die westliche Glitzerwelt im Fernsehen. Öffentlich paßten sich die Bürgerinnen
und Bürger an und vollzogen die verlangten Gehorsamsrituale – wie Aufmärsche zu
staatlichen Festen, Wahlgänge, Soli-Beiträge und vieles andere mehr. Ein paar
Tausend hatten die Nase so voll, daß sie Ausreiseanträge stellten. Eine noch
kleinere Minderheit, um die 5000 Frauen und Männer, versuchten in der
Öffentlichkeit unter den Dächern der evangelischen Kirchen für Demokratie,
Menschenrechte und eine unversehrte Umwelt einzutreten. Die westlichen sozialen
Bewegungen der 70er und 80er Jahre fanden hier im Osten ihren Widerhall. Diese
Opposition widersetzte sich dem vormundschaftlichen Staat, aber abschaffen
wollte sie ihn nicht. Sie hofften auf die Reformierbarkeit des sozialistischen
Systems. Aber kaum einer aus diesen Kreisen gierte nach den Schalthebeln der
Macht. Die Mächtigen sollten nach ihrer Auffassung sich an demokratische
Spielregeln halten und eine breite Bürgerbewegung sollte diesen Prozeß kritisch
begleiten. Die moralische Naivität dieser Opposition war schon bemerkenswert.
Ende
der 80er Jahre begannen dann einzelne aus den Oppositionsgruppen darauf zu
drängen, die Schutzdächer der Kirchen zu verlassen und die gesellschaftliche
Öffentlichkeit zu besetzen. Nicht mehr eingeklemmt zwischen kirchlichen
Domestikationsversuchen und staatlichen Einschüchterungsritualen wollten die
Oppositionellen wie selbstverständlich den öffentlichen Raum auch für sich in
Anspruch nehmen. Politische Untergrundtätigkeit lag ihnen nicht. Sie mochten
nicht konspirativ arbeiten. Während die Staatsmacht getreu der kommunistischen Tradition
dunkle Gestalten bei geheimen Treffs und bei finsterer Wühlarbeit vermuteten,
suchten die Oppositionellen das Tageslicht der Öffentlichkeit.
Ende
der 80er Jahre war für viele Bürgerinnen und Bürger der normale Alltag so
unerträglich geworden, daß nur ein Tropfen genügte, das Faß zum Überlaufen zu
bringen. Der Aufruf des Neuen Forums vom 9. und 10. September 1989,
der das verlogene Klima in der DDR geißelte und den öffentlichen Dialog
forderte, sollte sich als dieser Tropfen erweisen. In Windeseile verbreitete
sich das Papier. Bald riefen die Leute: “Wir sind das Volk!” Für zwei bis drei
Monate glaubte sich die Opposition mit der Bevölkerung im Einklang. Die
Massendemonstrationen begannen. Die Verantwortlichen mußten sich dem Zorn der
Bevölkerung stellen. Funktionäre verloren ihre Posten. Der Geheimdienst verlor
seinen Schrecken. “Stasi in die Produktion!”, riefen die Leute. Die
Gründerinnen und Gründer des Neuen Forums wunderten sich sehr über ihren
unglaublichen Erfolg. Andere Gründungen folgten. Aber keine Gruppe erreichte am
Anfang die Popularität des Neuen Forums. Sie dachten, jetzt beginnt die Reform
in der DDR. Die Freiheitsrechte und die parlamentarische Demokratie sollten
jetzt Wirklichkeit werden. Groß war die Erleichterung, als der Staat auf Gewalt
verzichtete. Auch die sowjetischen Gruppen blieben in den Kasernen. Aber daß
die alten Machteliten so schnell ihren Platz räumten und die Machtapparate über
Nacht zerfielen, damit hatte niemand gerechnet. Zum Schluß öffneten sie die
Mauer und gaben sich selbst auf. Die Leute riefen bald: “Wir sind ein Volk!”
Die Oppositionellen waren nicht mehr gefragt. Sie hatten den Aufbruch gewagt,
andere übernahmen das Heft des Handelns.
III. Das Volk der DDR wollte die Einheit
Der
Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, und der Bundeskanzler der
Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, sahen sich von dem stürmischen
Verlangen der Ostdeutschen nach der Einheit überrascht. Der Ruf der
DDR-Bewohner: “Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zur D-Mark!” zeigt die
Dramatik der Situation. Das D-Mark-Land war das Traumziel der ostdeutschen
Nischenbewohner. Der Ruf nach der Einheit schwoll immer stärker an. Nach
anfänglichem Zögern bedienten ost- und westdeutsche Parteien dieses Verlangen.
Nur Die Grünen meinten: “Alle Welt redet von der deutschen Einheit, wir reden
vom Klima!” Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl flogen sie aus dem Bundestag.
Sie lagen neben der Stimmung im Volke.
Willy
Brandt übersprang den Graben der vierzigjährigen Trennung und verkündete, daß
nun zusammenwachsen würde, was zusammen gehöre. Helmut Kohl sprach von den
blühenden Landschaften, die im Osten entstehen würden, wenn die Einheit
Deutschlands hergestellt sei. Noch aber war eine Übergangszeit zu bewältigen.
Zwischen den ersten Rufen nach der deutschen Einheit Ende 1989 und den ersten
letzten freien Wahlen in der DDR lagen noch gut drei Monate.
Das
entstandene Machtvakuum versuchten die Verantwortlichen in der DDR mit den
Runden Tischen auf allen Ebenen zu begegnen. Diese Tische wurden zum Lieblingsmöbel
im untergehenden Staat. Die alten Eliten und die neuen politischen Kräfte saßen
an ihm und versuchten den unruhigen Zeiten zu begegnen. Dieses
vorparlamentarische Möbelstück befriedigte die Konfliktscheu und das
Konsensbedürfnis der ostdeutschen Gesellschaft. Der öffentliche Streit,
Streitkultur als Herzstück der parlamentarischen Demokratie war östlich der
Elbe nicht sehr beliebt. Viele meinen heute noch, das war die beste Zeit für
die Politik und die Demokratie im Osten. Als Krisenmanagement in einer
Übergangszeit war das eine annehmbare Lösung.
Wer
die alten Eliten eines diktatorischen Systems nicht in die Wüste schicken
wollte, hatte keine andere Wahl, als mit ihnen zu kooperieren. Der Runde Tisch
war das Ende einer Diktatur, aber nicht das Zeichen der Revolution. Der
Austausch der alten Eliten kam nicht zu ihrem Ziel. Aber vielleicht kann man in
den hochkomplizierten Industriegesellschaften keine Revolution mehr durchführen
wie einst 1789 in Frankreich oder 1917 in Rußland.
Die
Wahlen am 18. März 1990 in der DDR schafften politische Klarheit. Die
DDR-Opposition verlor die Wahl. Die alte Blockpartei CDU gewann. Helmut Kohl,
der Wohlstandsgarant in den Augen der Ostdeutschen, hatte sein Gewicht in die
Wagschale des Wahlkampfes geworfen. Von dem Mann fürs harte Geld erhofften sich
die Leute eine weiche Landung in der westlichen Gesellschaft. Er galt als
Gewährsmann der schnellen Vereinigung. Als Oskar Lafontain vor überstürzten
Entscheidungen warnte, war das Schicksal der Sozialdemokraten im Osten
besiegelt. Gemessen an ihren Hoffnungen erlitten sie eine schmähliche
Niederlage. Die Bürgerbewegten im Bündnis 90, die auf ihren Wahlplakaten
meinten: “Artikel 23 – Kein Anschluß unter dieser Nummer!” galten als
Verhinderer der schnellen Einheit und wären im Westen nicht einmal ins
Parlament gekommen. Nicht anders erging es den Ost-Grünen.
Das
Wahlergebnis machte in seiner politischen Konsequenz die DDR zum
Beitrittsgebiet der Bundesrepublik. Verhandlungen, die zur Einheit führen
sollten, konnten nun nicht mehr auf gleicher Augenhöhe stattfinden. Die
Ostdeutschen hatten sich selber in die Demütigungsfalle begeben.
IV. Die deutsch-deutsche Vereinigung – eine Sturzgeburt
Nach
den Wahlen im März 1990 waren die Abgeordneten der Volkskammer darauf erpicht, sich
möglichst schnell überflüssig zu machen. Bei der konstituierenden Sitzung des
Parlaments traf ich Reinhard Höppner, den heutigen Ministerpräsidenten von
Sachsen-Anhalt. “Zwei Jahre wird es wohl dauern bis zur deutschen Einheit”,
meinte er. Er ahnte wie mancher andere nicht, daß sich die Eigendynamik des
Vereinigungsprozesses immer mehr beschleunigen sollte. Die ostdeutsche
Bevölkerung wollte die Einheit sofort.
Die
Leute verließen auch jetzt noch zu Hunderttausenden die DDR. Die westliche
Republik fürchtete sich vor dem Flüchtlingsstrom. Wenn die bisherige
Bundesrepublik nicht in Mitleidenschaft gezogen werden sollte, mußten möglichst
bald eine einheitliche Währung, gleiche wirtschaftliche Bedingungen und die
soziale Angleichung der Ostdeutschen her. Ein längerer Prozeß, wie es etwa
Spanien oder Griechenland bei ihrem Beitritt zur Europäischen Union gewährt
worden war, wurde aus vielen Gründen nicht ins Auge gefaßt.
Helmut
Kohl war 1989 in politischer Bedrängnis. Seine Zeit schien abgelaufen zu sein.
Im Spätherbst 1990 standen
Bundestagswahlen bevor. Als Kanzler der Einheit wuchsen seine Siegeschancen. Er
mußte nur entschlossen handeln.
In
Osteuropa änderte sich die Welt. Michail Gorbatschows Machtposition war
gefährdet. Er räumte die Machtpositionen der Sowjetunion in den
ostmitteleuropäischen Ländern. Die Sowjetunion begann sich aufzulösen. Noch war
der Einheits- und Devisenfreund Deutschlands Chef im Kreml. Aber niemand wußte,
wie lange das noch dauern würde.
Die
Kraft der ostdeutschen Wirtschaft wurde überschätzt. Der Ostmarkt wurde
weiterhin für stabil gehalten. In die Hände der Treuhandanstalt übergeben
sollten die Betriebe bei der Privatisierung Milliarden Erlöse bringen. Der
Geldumtausch, der im Schnitt bei einer D-Mark für 1,80 Ost-Mark vorgesehen
war, sollte die Kaufkraft aber auch die Zufriedenheit der Bevölkerung erhalten.
Kaum jemand war bereit, sich dieser Entwicklung kritisch zu widersetzen.
Ein
paar Stunden vor der entscheidenden Debatte in der Volkskammer bekamen die
Abgeordneten ein so genanntes Mantelgesetz in die Hände. In diesem Mantel waren
die Bedingungen und Gesetze eingewickelt, die mit dem Beginn der Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in kraft treten sollte.
Die Parlamentarier konnten die Folgen gar nicht prüfen. Die überwältigende
Mehrheit wollte das auch gar nicht.
Die
Konsequenzen ließen nicht auf sich warten. Kühe schauten durch die Glasfenster
des Palastes der Republik, dem Sitz des Parlamentes. Hinten ließen sie grüne
Fladen zurück. Milch wurde auf die Straße gekippt. Ostdeutsche Produkte wurden
nicht mehr verlangt. Der Westen füllte die Regale und überschwemmte den
Ostmarkt mit Gebrauchtwagen. Die Betriebe kämpften ums Überleben nicht nur,
weil sie marode und unrentabel waren. Aber der Zug in die Einheit war
abgefahren. Es ging nur noch um den Termin zwischen der Zustimmung der
Alliierten der Anti-Hitler-Koalition und dem 41. Jahrestag der DDR, den
keiner mehr feiern wollte. Der Einigungsvertrag kam und in einer turbulenten
Nachtsitzung im August wurde der Termin festgelegt. Am
3. Oktober 1990 war es soweit. Alles sollte für alle im Osten anders
werde, während im Westen alles beim alten blieb. Allein die Bodenreform, von
der Sowjetunion einst verlangt, blieb.
Das Stasi-Unterlagengesetz hatten sich die Bürgerrechtler ertrotzt. Die
Machenschaften des Geheimdienstes sollten der Öffentlichkeit und den
Betroffenen nicht verborgen bleiben. Aber alles in allem war die Herstellung
der deutschen Einheit eine Sturzgeburt. Das überstürzte Handeln konnte nicht
ohne Folgen bleiben.
V. Der Untergang der DDR-Wirtschaft und die sozialen Folgen
Es sollte sich bald herausstellen, daß die
vorausgesagten blühenden Landschaften im Osten auf sich warten ließen. Unter
der verordneten Schocktherapie gingen viele Betriebe bankrott. Kein eigenes
Kapital, keine Absatzmärkte, hoher Arbeitskräftebesatz, und geringe
Produktivität waren Belastungen, die katastrophale Folgen haben mußten. Die
D-Mark-Grenze war zur Oder vorgerückt. Die klassischen Ostmärkte hatten keine
Devisen. Die politische Destabilisierung Ost-Mitteleuropas und der Sowjetunion
störte die wirtschaftliche Kooperation als zusätzlicher Verunsicherungsfaktor.
Auch die lange Schlange von Investoren blieb bei
der Treuhand aus. Abenteurer und Abzocker mischten sich unter die wenigen
Kauflustigen. Millionen Beträge verschwanden in dunklen Kanälen. Betriebe
wurden aufgekauft, die Produktion in westliche Regionen verbracht und der
vorhandene Absatzmarkt von dort aus bedient. Der Ostbetrieb hatte das Nachsehen
und der Investor hatte seine Schäfchen ins Trockene gebracht.
Um die völlige Deindustrialisierung
Ostdeutschlands zu verhindern, hat die Bundesregierung hohe Anstrengungen
unternommen. Sie versuchte industrielle Kerne zu retten. Das Paradebeispiel ist
die Chemierregion in Sachsen-Anhalt. Mit hohen Investitionszuschüssen wurde der
französische Mineralölkonzern, der amerikanische Chemiekonzern Dow-Chemical und
der Arzneihersteller Bayer angefüttert. Sie setzten die modernsten Firmen ihrer
Branche in oder neben die alten Industriebrachen. Ihre Produktivität wird weit
über die der bisherigen Betriebe liegen. Aber das Arbeitslosenproblem in dieser
Region wurde damit nicht gelöst. Moderne Betriebe mit ihrem hohen Automatisierungsgrad
brauchen weniger Arbeitskräfte.
Die Begünstigung von Bau-Investitionen, die
Errichtung von Gewerbegebieten, der Aufbau von Kläranlagen, der Ausbau des
Telefonnetzes und der Straßenbau machte die Bauwirtschaft kurzfristig zur
Konjunkturlokomotive. Aber auch hier wurden viele Millionen D-Mark staatlicher
Zuschüsse sinnlos verschleudert. Leere Bürohäuser, überdimensionierte
Kläranlagen und ungenutzte Gewerbegebiete sind dafür ein beredtes Zeugnis. Zehn
Jahre nach der Einheit kränkelt die Bauwirtschaft. Arbeitsplätze gehen jetzt
verloren.
Alle Welt redet von der
Dienstleistungsgesellschaft. Sie solle den Arbeitsmarkt beleben. Niemand wird
das bestreiten. Selbständigkeit ohne eigenes Kapital und mit mangelhafter
Nachfrage ist auch in diesem Wirtschaftssektor höchst riskant. Der erwünschte
Aufbruch wird auf sich warten lassen.
Die soziale Folge der deutschen Einheit ist eine
hohe Arbeitslosigkeit. Langzeitarbeitslosigkeit wird zur Massenerscheinung.
Über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schleppen sich viele bis zur Rente. Für
ältere Erwerbslose gibt es keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Die Jungen gehen
aus Ostdeutschland weg. Die Rentner, durch die Einheit besser gestellt als zu
DDR-Zeiten, bleiden. Als 1999/2000 im Westen die Konjunktur ansprang, die
Arbeitslosenzahl spürbar zurückging, änderte sich in Ostdeutschland kaum etwas.
Der Osten bleibt auf absehbare Zeit alt und arm.
VI. Die
kleinbürgerliche Prägung der ostdeutschen Gesellschaft hat sich durch die
Einheit nicht geändert
Die DDR-Oberen haben ihre Untertanen über
vierzig Jahre in einer Art Festungshaft mit gelegentlichen Ausgang gehalten.
Die Öffnung der Bundesrepublik nach dem Westen, zu den westeuropäischen und
amerikanischen Demokratietraditionen hat hier nicht stattgefunden. Auch die
Öffnung nach dem Osten hat sich nie richtig vollzogen. Außer bei ritualisierten
Freundschaftstreffen mit den sowjetischen Truppen gab es so gut wie keine
persönlichen Kontakte zwischen den Armee-Angehörigen und der deutschen
Bevölkerung. Die ostdeutschen lebten in einer geschlossenen Gesellschaft.
Das Bürgertum, aus dem im Westen die Träger der
sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren hervorgegangen sind, war aus
der DDR geflohen und seine Reste in das gesellschaftliche Abseits gedrängt
worden. Die Ostdeutschen sind Untertanen geblieben, die den Staat zur Obrigkeit
machten. Während am Rhein und seinen Nebenflüssen schon im 19. Jahrhundert
zarte Pflänzchen der Demokratie gepflanzt wurden, war Ostelbien das Kernland
preußisch-protestantischem Untertanengeistes. Er bringt jenen Typ Mensch
hervor, der nach oben katzbuckelt und nach unten tritt.
Die vierzigjährige Herrschaft der
kommunistischen Ideologie und ihrer Protagonisten haben an diesem Grundmuster
des Untertans nichts geändert. Überall begegnen wir in der Gesellschaft auch
zehn Jahre nach der Einheit solchen Menschen. In Büros, Schulen, Polizei,
Kindergärten und noch an vielen anderen Orten finden wir Reste des autoritären
DDR-Geistes. Überall dort, wo die staatliche Autorität ihre autoritären Untertanen
zu Handlangern gemacht und mit begrenzter Macht ausgestattet hatte, sind auch
im Jahre 2000 noch Nachwirkungen zu spüren. Wehleidig und selbstgerecht wehren
sich solche Leute gegen jede kritische Nachfrage. Verantwortung zu übernehmen
ist nicht ihre Sache.
Lernen, lernen, wollte er von den Westdeutschen,
wie Demokratie und soziale Marktwirtschaft funktioniere, erklärte ein hoher
Polizeioffizier, der schon Ende 1989 in Bayern sich kundig machen wollte.
Gleichzeitig geht ein Westhaß in der ostdeutschen Gesellschaft um, der Züge von
Rassenhaß trägt. Offenbar benötigt man nach dem Ende einer Diktatur eine ganze
Generation in einer Demokratie, um über die persönliche Verantwortung aller in
dem System lebenden kritisch nachzudenken. Heute wehren die Leute nur ab, wenn
man sie nach ihrem Duckmäusertum fragt. Sie wollen nichts davon hören, daß sie
durch ihr Verhalten das System stabilisiert haben. In ihren Augen waren es
immer die Anderen, z.B. die SED oder die Staatssicherheit. Sie beteuern, daß
sie doch an das Fortkommen ihrer Kinder hätten denken müssen. Deshalb hätten
sie geschwiegen und vieles mitgemacht. Sie hätten doch nicht anders gekonnt,
erklären sie Jedem, der danach fragt. Tief gekränkt sind sie, wenn jemand zu
behaupten wagt, es wäre auch anders gegangen. Dieser Mensch hat die
Einheitsfront der Beleidigten gegen sich.
Manchmal ist es nicht leicht, als ostdeutscher
Dissident in solch einem geistigen Klima zu leben. Die ostdeutsche Gesellschaft
hat noch einen langen Weg vor sich, bis sie eine offene Gesellschaft geworden
ist. Für die Westdeutschen besteht aber kein Grund zur Überheblichkeit, denn
sie haben erst 30 Jahre hinter sich, was die Ostdeutschen noch vor sich
haben.
VII. Im
Osten gehen die politischen Uhren anders – Versuch einer Analyse 10 Jahre
nach der Einheit
1990 sah es so aus, als würde die westdeutsche
Parteienlandschaft in Ostdeutschland übernommen. CDU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
waren hüben wie drüben die Träger der politischen Verantwortung. Viele meinten,
die PDS würde sich von allein erledigen. Sie sei ein Auslaufmodell. Im
Bundestag würde sie auf jeden Fall nur eine Gastrolle spielen. Aber zwischen
1994 und 1998 änderte sich die Situation in Ostdeutschland. Die FDP flog aus
allen Landesparlamenten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ereilte das
gleiche Schicksal. Nur in Sachsen-Anhalt gelangten sie 1994 durch vorgezogene
Wahlen und durch eine außerordentlich niedrige Wahlbeteiligung noch einmal ins
Landesparlament. Die PDS aber stabilisierte sich um die 20 %. Sie wurde zu
einer mittelgroßen ostdeutschen Volkspartei. Sie war jetzt nicht nur die
Sozialstation für enttäuschte Sozialisten höheren Alters. Ihr Wählerklientel
rekrutierte sich aus allen Schichten der Bevölkerung. Auch Intellektuelle und
Unternehmer wählten diese Partei.
Das Magdeburger Wahlergebnis von 1994 hätte nach
westlichem Politikmuster nur zur großen Koalition führen können. Aber wir sind
einen anderen Weg gegangen. Ich war beteiligt, daß der Osten sich in der
Politik mit anderen Lösungen zurückmeldete. Die SPD und die Bündnisgrünen
hatten vier Stimmen mehr im Parlament als die CDU. Die PDS hatte schon im
Januar des Jahres signalisiert, daß sie eine rot-grüne Minderheitsregierung
tolerieren würde. Reinhard Höppner entschloß sich tatsächlich mit uns diese
Regierung zu bilden.
Die Aufregung in der Bundesrepublik war groß.
Die CDU startete die Rote-Socken-Kampagne. Daraufhin trugen die Genossinnen und
Genossen eine rote Minisocke an ihrer Kleidung. Die Herbstwehen für die
Bundestagswahl standen vor der Tür. Für viele Westdeutsche waren die Mitglieder
der PDS immer noch ein Überbleibsel aus dem Reich des Bösen. Sie hatten nicht
wahrgenommen, daß in dieser Partei eine heftige Auseinandersetzung um ihre
Rolle in der DDR tobte. Viele Mitglieder liefen nicht aus der Verantwortung
fort und betrachten kritisch ihr eigenes Tun. Diese Selbstkritik ist selten
unter Ostdeutschen. Der unglaubliche Druck, der auf der PDS ruhte, führte zu
einer Art Selbstreinigung. Die Opportunisten liefen davon. Selbstgerechte und
Unbelehrbare, die den Untergang der DDR als Verrat definieren, sind noch da.
Aber sie sterben aus.
1994/1995 bildeten die Bündnisgrünen eine Art
Scharnier zwischen SPD und PDS. Im Osten wagte sich an die Bürgerrechtler so
schnell keiner heran. Aber unsere Mittlerrolle wurde 1998 bei den nächsten
Wahlen nicht honoriert. Die soziale Schicht, die im Westen die Grünen trägt,
gibt es im Osten noch nicht. Wir hatten wie 1989 eine Tür aufgestoßen, aber
hinter der Tür fuhren andere die Ernte ein. Wir flogen aus dem Parlament.
In Mecklenburg-Vorpommern regiert unterdessen
eine Koalition aus SPD und PDS. 2002 wird Sachsen-Anhalt mit Sicherheit folgen.
Zwei kleine Parteien im Westen spielen im Osten auf absehbare Zeit keine Rolle
mehr. Ob die PDS im Westen Fuß faßt, ist noch nicht entschieden.
Eine böse Überraschung gab es 1998 in
Sachsen-Anhalt. Die DVU zog mit billigen Parolen und ohne sichtbare Mannschaft
mit über 12 % ins Landesparlament ein. Unterdessen ist die Fraktion
zerfallen. Die Fraktionäre waschen ihre schmutzige Wäsche auf offener Bühne und
geben im übrigen eine klägliche Vorstellung. Aber der Rechtsextremismus geht im
Osten um. Rechte Schlägertrupps beherrschen in ländlichen Regionen ganze Orte.
Völkisches Denken und brachiale Gewalt, die zwei Gesichter der Rechtsextremen,
gewinnen an Kraft. Das Beunruhigende ist, daß die rechte ideologischen
Versatzstücke bis in die Mitte der Gesellschaft reichen. Man kann nur hoffen,
daß die aufgeschreckte Öffentlichkeit dem rechten Spuk ein Ende macht.
Es wird gestritten, ob in Ostdeutschland die
Anfälligkeit für Fremdenhaß und Rassismus höher sei als im Westen. In den
ostdeutschen Großstädten wagen sich Afrikaner und Asiaten nachts nicht mehr auf
die Straße und in die Straßenbahn. Während in den westdeutschen Großstädten ein
weltoffenes Klima herrscht, werden ihre ostdeutschen Partnerinnen zum Ort der
Furcht. Wir Ostdeutsche müssen uns fragen lassen, ob die autoritären
Grundstrukturen unserer Gesellschaft nicht rechtes Denken befördert.
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