In:
Beratergruppe Dom des Gebetes um gesellschaftliche Erneuerung
im Magdeburger Dom (Hg.):
Anstiftung zur Gewaltlosigkeit - Herbst '89 in Magdeburg, imPULS-Verlag 1991
Herbst 1989 in Magdeburg
Zwölf Erinnerungen und ein Nachsatz
Über 40 Jahre währte in Europa die Nachkriegsgeschichte. Der
Gegensatz zwischen Ost und West schien auf lange Zeit festgeschrieben.
Und dann auf einmal setzte sich der Strom der Geschichte in Bewegung. Innerhalb
von wenigen Jahren durchbrach er alle Dämme und spülte die gültigen
Ordnungen in Mittelosteuropa den Fluß der Zeit herunter. Im Herbst
1989 erreichte die Flut auch uns in Magdeburg. Wer hat damals schon geahnt,
daß wir im Frühjahr 1991 an völlig anderen Ufern angekommen
sind. Wenn ich zurückdenke, tauchen Inseln der Erinnerung auf, Bruchstücke
von Erfahrungen hier in Magdeburg zwischen September und Dezember 1989.
Von solchen Erinnerungen will ich berichten, vielleicht lassen sie
ein Bild der Zeit erahnen.
Die erste Erinnerung: Ein herrlicher Spätsommertag. Am zweiten
Wochenende im September sitzen wir auf dem Wassergrundstück von Robert
Havemann in Grünheide, unser Traum sollte Wirklichkeit werden. Wir
wollten außerhalb der Kirche eine unabhängige Bewegung organisieren.
Endlich sollte auch in der DDR eine politische Opposition eine öffentliche
Plattform erstreiten. Die gesellschaftliche Lüge sollte beendet werden,
im zweiten deutschen Staat sollte der Traum vom demokratischen Sozialismus
Wirklichkeit werden. Das Neue Forum wurde gegründet, ein Text "Aufbruch
89" erarbeitet. Bärbel Bohley, Jens Reich, Katja Havemann, Rolf Henrich
und andere, insgesamt etwa 30 Personen unterschrieben. Von der Staatssicherheit
war nichts zu sehen.
Die zweite Erinnerung taucht auf. Am Dienstag darauf begannen wir,
Heidemarie Wüst und ich, in Magdeburg in den Räumen der Evangelischen
Akademie, Hegelstraße 18, mit der Vervielfältigung des Aufrufs,
verbotenerweise auf unserem kleinen Kopierer. Eine Sondersitzung des Aufsichtsgremiums
der Evangelischen Akademie - des Kuratoriums -mußten wir einberufen.
Die Amtskirche mahnte zur Vorsicht, den Kopierer sollten wir nicht benutzen,
wir sagen zu und benutzten ihn trotzdem.
Eine dritte Erinnerung: Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR saßen
mehrere Leute in unseren Büroräumen. Sie wollten am 7. Oktober
Texte verteilen, die zur Gewaltlosigkeit aufforderten. Die Sicherheitskräfte
traten in Aktion, jeder, der das Haus verließ, wurde zugeführt,
so die Sprachregelung für vorläufige Festnahmen. Die Kirchenleitung
wurde von den Behörden alarmiert, in den Räumen der Akademie
würden staatsfeindliche Aktionen vorbereitet. Nach langem Zögern
erschien jemand von der Kirchenleitung, verunsichert, zwischen Loyalität
gegenüber dem Staat und Solidarität mit der entstehenden Opposition
hin- und hergerissen.
Eine nächste Erinnerung drängt sich in mein Bewußtsein.
Eine Flut von Briefen brach über uns herein. Der Aufruf "Aufbruch
89" war mit unseren Adressen versehen worden. Zustimmung aus allen Teilen
der DDR erreichte uns. Ein leeres Zimmer innerhalb unserer Büroräume,
von mir privat von der Kirche abgemietet, wurde zum Büro Neues Forum
- Hegelstraße 18, das war plötzlich eine Adresse in Magdeburg.
Freiwillige Mitarbeiter stellten sich ein, die Leute kamen, um den Aufruf
zu unterschreiben, sie diskutierten wie wild, vierzig Menschen und mehr
bevölkerten oft alle Räume, Zigarettenqualm hing in der Luft,
und bis weit nach Mitternacht klappten die Türen. Es war wie ein Rausch.
Die Staats-sicherheit saß gegenüber in den Räumen einer
Blockpartei, aber sie griff nicht ein. Ihr Chef in Magdeburg sollte später
in der halbgewendeten "Volksstimme" behaupten, sie hätten die Hegelstraße
18 nie überwacht. Herr Tschiche könne sich ja überzeugen.
Und dann der Dom - fünfte, unauslöschliche Erinnerung. Frau
Zachhuber und Herr Quast, Dompredigerin und Domprediger, sollten diese
Kirche zum Symbol der friedlichen Veränderung in Magdeburg machen.
Die Montagsgebete, im September begonnen, zogen Tausende von Menschen an.
Dicht bei dicht standen sie in der Kirche, in den Kreuzgängen, im
Domgarten und schließlich noch auf der Straße. Spannungen zeigten
sich bei den Veranstaltern, wer denn nun die treibende Kraft bei den Veränderungen
sei, ob wir zurückhaltend sein sollten; wir, die politischen Kräfte,
ob wir sie voranbringen sollten, ob wir auf die Straße gehen sollten.
Angst ging um, und Drohungen wurden laut. In Betrieben und Schulen wurde
erklärt: "Geht nicht in den Dom, dort versammelt sich staatsfeindliches,
randalierendes Gesindel, Politgangster wir Zachhuber, Quast und Tschiche
mißbrauchen das hohe Vertrauen, das man den Kirchen von staatlicher
Seite entgegengebracht habe."
In den Schulen ringsum saßen die Kampfgruppen versteckt hinter
zugezogenen Fenstern und gegenwärtig zugleich. Demonstrationen sollten
um jeden Preis verhindert werden. Im Dom stiegen von Montag zu Montag die
Spannungen.
Die erste Demonstration, später als in Leipzig und unbeachtet
von den westlichen Medien, sechste, tiefsitzende Erinnerung. Die Tore des
Domes öffneten sich. In breiter Front traten wir auf den Domplatz.
Rhythmisch klatschend, eigentlich mehr schweigend, zogen wir auf die Karl-Marx-Straße,
nicht ahnend, daß sie die längste Zeit so geheißen haben
wird. Nichts passierte, die Polizei hielt uns den Weg frei, das Ende der
DDR begann. Wir wußten es nur noch nicht.
Angstschwitzende Mächtige in den Sesseln der Akademie, ist die
nächste Erinnerung, die in mir aufsteigt. Da saß er, der Erste
Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg, wie das
so hieß, der Chef der Abteilung Inneres, der Verbindungsmann zur
Staatssicherheit, derjenige, der die Kirche zum Rapport bestellte und der
meine Versetzung gefordert hatte. Er war ein wenig außer Atem, nicht
nur wegen der Treppen bis zum zweiten Stock, rosig, aufgeschwemmt und laut.
Er überbrachet mir die Einladung zum Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden.
Es ging um die Anmeldung des Neuen Forums, aber eigentlich ging es um mehr.
Im Pressegespräch nach dem Zusammentreffen wurden wir gefragt, ob
wir in die politische Verantwortung unmittelbar eintreten wollten, meine
Antwort: "Nein". Wer die Karre in den Dreck gefahren habe, sollte sie
auch herausziehen. wir wollten diesen Prozeß kritisch begleiten.
Vielleicht war das unser Fehler. Wir hatten nicht den Mut, die Macht an
uns zu bringen, die auf der Straße lag.
Der mächtigste Mann des Bezirkes gab sich die Ehre, die achte
Erinnerung. Anruf von der SED-Bezirksleitung, ob wir nicht zu einem Gespräch
in die Gerhard-Hauptmann-Straße, Sitz der Bezirksleitung, kommen
könnten. Immer noch strömender Regen. Vor der Bezirksleitung
erwartete uns ein Abteilungsleiter mit aufgespanntem Regenschirm. Drinnen
übernahm uns der nächste, dann der Vorraum, die Damen nahmen
unsere Mäntel ab, fragten, was wir trinken wollten. Und nun saßen
wir uns gegenüber, der Genosse, der erste Sekretär und Mitglied
des Politbüros, sein Stellvertreter und wir, die beiden Vertreter
der Akademie. Wie ein gütiger, resignierter Superintendent wirkte
er, der große Mann mit der tiefen Stimme. Er wollte uns bewegen,
die Demonstrationen einzustellen. Als wir ablehnten, drohte er mit Gegendemonstrationen.
Macht habe er nicht, er würde die Kreisleitungen der SED nur politisch
anleiten. Freundlich wurden wir verabschiedet, mit dem gleichen Ritual
wurden wir wieder ans Auto begleitet, welch eine Wende war erfolgt - vom
Staatsfeind erster Kiasse zum Gesprächspartner.
Der große Tag, - der 4. November 1989-, der Höhepunkt der
Hoffnung für die DDR -Erinnerung Nummer neun. Mit den Künstlerverbänden
des Bezirkes, den neuen Gruppierungen und den Mächtigen von gestern,
fand ein Forum auf dem Domplatz statt. Ganz hinten wurden die ersten bundesdeutschen
Fahnen gesichtet. Aber noch hallte es über den Platz: "Wir sind das
Volk!" Unübersehbar die Menge, niedergeschrieen die Mächtigen,
und ich wurde von einer Woge des Beifalls getragen, als ich redete. Nach
fastjedem Satz erhielt ich tosenden Beifall, ein merkwürdiges Gefühl,
wenn man mit Reden etwas bewegen kann, verführerisch und beängstigend
zugleich. Daran schloß sich eine riesige Demonstration an. Es war
eine Volksfeststimmung.
Nächste Erinnerung: Das zweite, große Forum auf dem Alten
Markt. November war es, strömender Regen - und keiner ging. Die Kirche
moderierte. Auf dem Platz waren offene Mikrofone. Nach dem Montagsgebet,
in tiefer Dunkelheit versammelten sich Abertausende. Die erste Frage: "Welches
Wirtschaftsprogramm hat das Neue Forum?" Als ich anfing zu reden, plötzlich
Geschrei in den ersten Reihen: "Nazis raus, Nazis raus!" Ich geriet eingermaßen
aus der Fassung. Die Bezirksparteischule hatte ihre Kader aufgefahren.
Dann wie eine Flutwelle der Gegenruf: "Stasi raus, Stasi raus!" Die Demontage
der Mächtigen begann in aller Öffentlichkeit. Der Oberbürgermeister
mußte auf das Podium und wurde öffentlich gedemütigt. die
Vertreter der Blockparteien verließen das sinkende Schiff der SED.
Das alles in strömendem Regen, zwei Stunden und mehr. Es war unfaßbar.
Dann - der 9. November, ich saß im Auto, kam von einer Demonstration
aus Schönebeck, das elfte Erinnerungsbild. Der Radiosprecher berichtete
von der Öffnung der Grenze. Ich erinnere mich an ein merkwürdiges Gefühl, einer
Mischung aus ungläubigem Staunen und leiser Trauer. Es begann der
Abschied von der DDR, von vierzig Jahren meines Lebens, aber noch wußte
ich es nicht. Bei einer Demonstration zur SED-Bezirksleitung stand plötzlich
ein Mann auf den Stufen, ein Mann in meinem Alter, sicher in den Nischen
der DDR angepaßt gelebt, rief: "Wollt ihr die Wiedervereinigung
Deutschlands?" Und sie schrieen: "Ja!" Da hätte ich wissen müssen,
daß nun nicht mehr die gerechte Gesellschaft, sondern die Wiedervereinigung
Deutschlands Thema des Tages war. "Wir sind ein Volk!", war der neue Ruf.
Ich saß unterdessen am Runden Tisch des Bezirkes. Als ich dort
mein Unbehagen über die Entwicklung äußerte, schrieb mir
ein katholischer Kollege, ich wäre wie die SED, die dem Volk immer
den Mund verboten hätte. Hier begann mein Zorn auf die Wendehälse.
Angepaßt schweigend haben sie 40 Jahre die Zeiten überbrückt,
tun so, als wären sie Opfer, sie erschlichen sich das Vertrauen der
Bevölkerung, die Parteien der Wendehälse sind vom Volk zur Mehrheit
gewählt worden, ihre Versprechungen haben sich nicht bewahrheitet,
der Preis der Einheit ist größer, als wir erwartet haben, ihren
Irrtum bezahlt das Volk.
Und hier und jetzt die letzte, die zwölfte Erinnerung. Im Dezember
findet die erste gemeinsame Demonstration von Braunschweiger und Magdeburger
Bürgerinnen und Bürgern in Braunschweig statt. Dort redete ich
zum ersten Mal öffentlich vom neuen deutschen Einheitsstaat. Es war
der Abschied vom Herbst 1989. Jetzt begann ein neuer Abschnitt der Geschichte.
Unseren Traum, den Traum der Bürgerrechtsbewegung, mußten wir
jetzt nicht mehr gegen den real existierenden Sozialismus durchsetzen,
sondern er mußte jetzt in den westlichen Industriegesellschaften
mit neuen Verbündeten umgesetzt werden.
Gewalttätigkeit gegen Menschen und Natur hat die Geschichte der
christlichen Eurpäer geprägt - das Ende dieser Gewalttätigkeit
wartet als geschichtliche Aufgabe auf uns.
Ein Nachsatz sei mir noch erlaubt. Was war der Herbst 1989 in Magdeburg:
Eine Revolution? Ich glaube es nicht. Ich erinnere mich an die biblische
Geschichte: Als die Israeliten aus dem Knechtshaus Ägypten aufbrachen
ins gelobte Land, stießen sie unterwegs auf die schützenden
Mauern von Jericho. Sie zogen mit Trompeten um die Mauern, und diese stürzten
ein. Wir sind umhergelaufen und das System, verfault wie es war, brach
widerstandslos in sich zusammen. Die Trümmer von fast 57 jähriger
Diktatur sind nicht beräumt und liegen vor uns. Der illusionäre
Traum von einer beginnenden neuen Gesellschaft, der Traum im Herbst 1989,
ist zu Ende. Es beginnt der Alltag - nur unter mühseliger Anstrengung
werden wir unsere Hoffnung und unsere Wirklichkeit einander annähern.
|