Rechtsradikales Engagement - Schattenseiten des Bürgerengagements?
Politische Beobachtungen und Erfahrungen
Im Frühjahr
1998 standen in Sachsen-Anhalt Wahlen an. Vier Jahre zuvor waren nur wenig
mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen. Jetzt
appellierte die Politik an die Bürgerinnen und Bürger, dass sie
bei den Landtagswahlen in diesem Jahr wenigsten dieses Minimum an bürgerschaftlichem
Engagement wahrnehmen und in den Wahlbüros erscheinen sollten. Ich
schloss mich als Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/ Die Grünen
und als Alterspräsident des Landtages diesem Appell an. Am 16. April
1998 heißt es in der Magdeburger Regionalzeitung „Die Volksstimme“:
„Alterspräsident ruft Bürger auf, bei Landtagswahlen die Stimme
abzugeben.“
Ich
mahnte allerdings an, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht allein
durch die Stimmabgabe sondern durch die tägliche und konkrete Beteiligung
vieler Menschen an diesen Prozessen möglich gemacht werden. Aber ein
leises Bangen muss mich in jenen Tagen beschlichen haben. „Im Zusammenhang
mit den bevorstehenden Landtagswahlen warnte Tschiche vor einer Verharmlosung
rechtsradikaler Parteien. Sie schürten mit einfachen Parolen Rassismus,
Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus“, zitiert die Volksstimme
meine Meinung.
Zwölf
Tage später zog die Deutsche Volksunion mit 16 Abgeordneten in den
Landtag ein. Ihre massive Werbung hatte zusätzlich 100.000 Personen
aus der Gruppe der Nichtwähler an die Urne gelockt. Damit war zwar
das Minimum an bürgerschaftlichem Engagement – eine erhöhte Wahlbeteiligung
- tatsächlich erreicht worden, aber genau dieses Wahlergebnis sollte
nach dem Willen der Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Parteien
und der politischen Öffentlichkeit nicht herauskommen. Die Bestürzung
war groß. Es wurde allenthalben nach den Ursachen gefragt. Aber eine
einfache Erklärung für das Erstarken der Rechten gab es nicht.
Meine
Enttäuschung über diese Entwicklung war besonders heftig, weil
ich immer gedacht hatte, die antifaschistische Erziehung der DDR hätte
die Bevölkerung gegen die braune Ideologie immun gemacht. Jetzt musste
ich zur Kenntnis nehmen, dass Rassismus und Nationalismus wie selbstverständlich
zum ostdeutschen Alltag gehören. So ist es kein Wunder, dass Mitbürgerinnen
und Mitbürger afrikanischer oder asiatischer Abstammung, deren Äußeres
auf ihre Herkunft verweist, lieber in Westdeutschland leben würden.
In Ostdeutschland fürchten sie sich. Irgendetwas am gesellschaftlichen
Klima des Ostens muss nicht in Ordnung sein. Ich glaube, sie spüren
ein Defizit an Weltoffenheit und Toleranz in diesen Regionen.
Wer aber
dieses besondere ostdeutsche Problem öffentlich benennt, hat bisher
immer Ärger bekommen. Meine Landsleute sind dann tief beleidigt und
vermuten stets eine neue Gemeinheit westdeutscher Besserwisser. Als Christian
Pfeiffer, der Leiter des kriminologischen Forschungsinstitutes und seit
2000 Justizminister in Niedersachsen, behauptete, dass es zwischen den
autoritären Erziehungsmethoden zu DDR-Zeiten und der rechten Gewalt
im Osten Zusammenhänge gibt, wurde er maßlos beschimpft. Das
von ihm angeführte Beispiel von aufgereihten Kindern auf Nachttöpfen
in den Kindergärten jener Zeit, ließ die ostdeutsche Volksseele
kochen. Aber ich denke, er beschreibt mit einem etwas merkwürdigen
Beispiel eine wichtige Beobachtung: Den Ostdeutschen ist die perfekte Anpassung
an gesellschaftliche Verhältnisse antrainiert worden. Privates Knurren
war möglich, öffentlicher Protest undenkbar. Die DDR verschwand,
aber diese Verhaltensmuster blieben.
Als
die Massenarbeitslosigkeit über die Ostdeutschen hereinbrach, haben
sie nur privat gemurrt. Als sie ihr ganzes Leben verändern mussten,
haben sie sich angestrengt und nur leise gejammert. Sie haben eine unglaubliche
Anpassungsleistung an das westdeutsche System hinter sich gebracht. Aber
Übung macht bekanntlich den Meister. Schließlich hatten sie
die Anpassung schon 40 Jahre in der DDR geübt.
Im öffentlichen
Raum hatten die Ostdeutschen schon immer getan, was von ihnen erwartet
wurde. Das war der Preis für ihre private Nische. Dort spielte sich
ihr eigentliches Leben ab. Konzentriert auf diese kleinbürgerliche
Idylle hatten sie sich mehrheitlich die eigenverantwortliche Einmischung
in öffentliche Angelegenheiten „abgeschminkt“. Sie schielten nach
dem staatlich Verlangten und sie erfüllten es gehorsam. Sie schickten
ihre Kinder zu den Jungen Pionieren, zur Freien Deutschen Jugend und zur
Jugendweihe. Sie gingen zu den sogenannten Wahlen, erschienen zu den verordneten
Demonstrationen. Wo auch immer ich hinschaute, öffentlicher Widerstand
oder gar Revolte war nicht die Sache der Ostdeutschen. Selbst im Herbst
1989 ging nur eine Minderheit auf die Straße. Aber nicht deswegen
brach die DDR zusammen. Das autoritäre System war in sich so geschwächt,
politisch und ökonomisch am Ende, dass es fast von allein zusammenbrach
wie ein Kartenhaus. Nicht der Sturm des Protestes wehte es hinweg, sondern
es war durch sich selbst zu Tode geschwächt.
class=textDie
Idee, den Sozialismus mit Kasernenhofmethoden durchzusetzen, war in Ostdeutschland
gescheitert. Seine Bürgerinnen und Bürger suchten erschrocken
nach neuen Autoritäten, denen sie sich anpassen konnten. Daher liefen
jetzt viele Menschen dieses Landstriches wie die Lemminge den westdeutschen
Machteliten hinterher. Den autoritären Staat waren sie über Nacht
und unerwartet los, aber sie wählten sich nicht einen eigenen ostdeutschen
Weg, sondern sie verschrieben sich westdeutschen Autoritäten, von
denen sie meinten, dass sie es schon richten würden.
Und jetzt
kommt aus Westdeutschland ein Professor wie Christian Pfeiffer daher, stellt
die Anpassungsleistung in Frage, sieht sie eher als eine der Ursachen des
emanzipationsfeindlichen und autoritären Verhaltens. Da ist man im
Kern seines Wesens getroffen. Trotzdem stimme ich seiner Deutung zu. Ich
habe seit 1945 kritisch und bewusst in Ostdeutschland gelebt und mir ist
klar geworden, dass meine Landsleute durch eine geschlossene Gesellschaft
geprägt worden sind.
In Westdeutschland
hingegen hatte sich eine neue gesellschaftliche Kultur gebildet, die weltoffen,
prowestlich und emanzipatorisch ausgerichtet war. Das 2001 ins Gerede gekommene
Jahr 1968 bedeutete unter der Studentenschaft jener Tage eine Revolte gegen
die Aufbaugeneration. Als 1945 das Dritte Reich in Rauch und Flammen unterging,
verschwand mit ihm auch das Millionenheer der Mitläufer. Kriegsverbrecherprozesse
der Alliierten und die eher lustlose Strafverfolgung der deutschen Behörden
verhinderten nicht das große Schweigen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.
Die Deutschen im Westen wollten vergessen und aufbauen. Sie wollten damals
von ihren Kindern nicht befragt werden und schleppten alte autoritäre
Wertesysteme, die verlogenen Prüderie und die Idylle vom trauten Heim
und dem ordentlichen Deutschen durch die Adenauer-Zeit. Die Empörung
über den brutalen US-amerikanischen Vietnamkrieg war der Funke, der
die Flamme der Revolte gegen die ältere Generation entzündete.
Fünfzehn Jahre später hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland
eine Elite gebildet, die sich westorientiert, weltoffen und emanzipiert
zeigte. Ein hohes Maß an gesellschaftlicher Eigenverantwortung führte
zu den sozialen Bewegungen der 80er Jahre. Selbstbestimmt und geschützt
vor staatlicher Willkür wollte die junge Generation im Westen Deutschlands
ihr Leben gestalten.
Dies
alles hat in Ostdeutschland nie stattgefunden. Aus dem Moskauer Exil kehrten
die erbitterten Feinde des Kapitalismus der westlichen Republiken in die
sowjetische Besatzungszone zurück. Bürgerliche Demokratie war
für diese kommunistische Elite Verrat an den Interessen der Massen.
Mit einer Heilslehre im Gepäck, mit pädagogischem Eifer nie irrender
Despoten und mit dem unbedingten Willen zur Macht nutzten sie bürgerliche
Linke und demokratische Sozialisten für ihre Zwecke. Nur kurz währte
die parlamentarische Demokratie und ein Mehrparteiensystem. Dann zeigten
sie ihr wahres Gesicht. Sie wollten die Macht. Sie wähnten sich auf
der Seite der Sieger der Geschichte in einer Welt, in der sie von Feinden
umgeben waren. Der Kalte Krieg bestätigte in ihren Augen ihre Befürchtungen.
Der Traum
von einer sozialgerechten Welt scheiterte am realexistierenden Sozialismus
sowjetischer Prägung. So war klar: Alles, was bei uns im Osten geschah
war antifaschistisch und antiimperialistisch. Die westliche Republik in
Deutschland war das Reich des Bösen, wo Faschisten, Revanchisten,
Militaristen und Imperialisten das Sagen hatten. Eine dröhnende Propagandamaschine
fiel über die Ostdeutschen her. Wer es nicht aushielt, ging weg. Wer
blieb, passte sich an oder ging unter. Der Antifaschismus wurde verordnet.
Auch viele überzeugte Sozialisten zerbrachen an seiner realen DDR-Gestalt.
Es war die hohe Zeit der Opportunisten. Eine offene Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 fand nicht statt. Von
der Zerstörung der Weimarer Republik auch durch die Kommunisten war
erst recht nicht die Rede. Statt Aufklärung und Emanzipation kam Bevormundung
und Besserwisserei über die Leute. Es war kein anderes Heil als in
der gerade gültigen Linie der herrschenden Partei.
Zwar
fand 1968 ein kurzes Aufbegehren in der Tschechoslowakei statt, aber die
Hoffnung währte nur einen Frühling. Ich dachte, dass der Traum
vom demokratischen Sozialismus sich jetzt erfüllen könnte. Als
die Panzer auf dem Wenzelsplatz in Prag rollten, war meine Enttäuschung
groß. Als 1989 die DDR zerbröselte, die Ideologie sich endgültig
als Phrasengewitter entlarvte, sollte sich bald zeigen, dass die alten
autoritären, obrigkeitsstaatlichen Traditionen der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts noch immer die Ostdeutschen prägten. Sie waren
deutscher als ihre westdeutschen Landsleute. Ich habe immer wieder in den
ersten Jahren nach dem Ende der DDR von Westdeutschen gehört, dass
das äußere Bild und die Lebensart der Menschen hier so sei,
wie sie diese aus der Adenauer-Zeit in Erinnerung hatten.
Ich behaupte,
dass solche Prägungen die Ostdeutschen in besonderer Weise anfällig
machen für rechtes Gedankengut. Ich bin Vorsitzender eines Vereins,
der versucht, die emanzipierten, toleranten und weltoffenen Kräfte
im Land Sachsen-Anhalt zu stärken und zu vernetzen. Er soll vor allem
in ländlichen Regionen tätig werden, in denen die zivilgesellschaftlichen
Kräfte besonders schwach sind. Mich beunruhigt, dass in unserer Mitte
eine Jugendkultur entstanden ist, die rechtes Gedankengut transportiert,
zugleich Jugendlichen eine Heimat anbietet und Musik verbreitet, die ihren
Geschmack trifft. In diesem Dunstkreis engagieren sich junge Menschen in
so genannten Kameradschaften, die in der Regel nicht von Parteien angestiftet
werden. Wir haben es also mit einem öffentlichen Engagement zu tun.
Sie versuchen ihre Altersgenossen in kleinen Orten, in ländlichen
Regionen oder großstädtischen Wohnquartieren mit einfachen Sprüchen,
mit bestimmten Klamotten wie Bomberjacken und Springerstiefeln und mit
einer bestimmten Musik zu faszinieren. Sie besorgen sich manchmal auch
Räume. Sie schaffen so genannte „nationalbefreite Zonen“, also Orte,
an denen für anders Denkende und Aussehende kein Platz ist. Dieses
Engagement führt zur Wiederkehr des Faustrechtes und verbreitet oft
Angst und Schrecken.
Die
politischen und gesellschaftlichen Akteure vor Ort tun sich manchmal sehr
schwer, mit diesem Phänomen umzugehen. Es sind schließlich Jugendliche,
die sie genau kennen. Es sind die Kinder ihrer Nachbarn, mit denen sie
nicht in Streit geraten wollen. Am liebsten möchten sie wegschauen
und gar nichts machen. Aber das wäre verhängnisvoll, denn dann
würde sich die braune Jugendkultur ungehindert ausbreiten. Einfache
Lösungen für eine Gegenstrategie gibt es sicher nicht. Den harten
Kern dieser rechten Gewalttäter wird man bestimmt nicht mehr erreichen
können. Wenn Straftaten vorliegen, sollten sie rasch und konsequent
geahndet werden. Allerdings bin ich nicht für die Verschärfung
der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten. Ich halte die bestehende Gesetzeslage
für ausreichend. Der Staat sollte sich durch brutale Gewalt nicht
zur Brutalisierung seiner Gegenwehr provozieren lassen. Märtyrer stärken
eher eine Bewegung, als dass sie diese schwächen.
Ansonsten
sollten wir alle Möglichkeiten nutzen, um rechtsextremes Denken und
rechtsextreme Gewalt zu ächten. Die rechten Schläger sind auf
keinen Fall mit den normalen Jugendbanden früherer Zeiten zu vergleichen,
die für einen bestimmten Lebensabschnitt über die Stränge
schlagen und dann wieder, wie man so schön sagt, „ganz normal“ werden.
Braune Gesinnung und rechtsextreme Gewalt kann nicht mit pubertierender
Aufmüpfigkeit entschuldigt werden, obwohl diese Verirrung in dieser
Lebensphase besonders leicht auftreten kann.
Auffällig
ist, dass die braune Szene im Osten besonders gewalttätig ist, obwohl
der Anteil ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger weit
unter dem westdeutschen Durchschnitt liegt. Die Zahl rechter Gewalttaten
pro Kopf der Bevölkerung ist in Ostdeutschland wesentlich höher.
Auf 100.000 Einwohner entfallen etwa dreimal so viele rechtsextremistische
Gewalttaten wie in Westdeutschland. Das Verhältnis beträgt 23:7.
Wenn man dann noch bedenkt, dass der Anteil der Ausländerinnen und
Ausländer, die vorrangig Opfer dieser Gewalttaten sind, im Osten durchschnittlich
nur etwa 1,7 % und im Westen aber 9 % beträgt, wird das Bild noch
düsterer.
Vor diesem
Hintergrund wird auch deutlich, dass rechtsradikales und bürgerschaftliches
Engagement Gegensätze sind und sich ausschließen. Bürgerschaftliches
Engagement zielt auf die Beteiligung aller Mitglieder eines Gemeinwesens
ab. Gewaltverzicht, Toleranz und Gemeinwohlorientierung sind die konstitutiven
Gütekriterien bürgerschaftlichen Engagements. Eine Kultur bürgerschaftlichen
Engagements schafft - bei aller Schwäche gegenüber Gewaltandrohungen
- eine nachhaltige Immunität und Resistenz gegenüber rechtsradikalen
Einstellungen.
Rechtsradikale
sollten folglich in der Gestaltung der Gesellschaft keine Rolle spielen
dürfen. Dennoch sollten wir Möglichkeiten bereitstellen, dass
Leute, die aus der Szene aussteigen wollen, Zuflucht und Begleitung erfahren.
So laufen mittlerweile erste Versuche, Aussteigerprogramme aufzulegen.
Wir haben in unserem Bereich damit noch keine Erfahrungen. Aber es könnte
doch sein, dass sich bei manchen dieser Jugendlichen der Ausflug in die
rechte Szene „verwächst“. Wenn die These von der besonderen Jugendkultur
nämlich stimmt, wachsen Leute aus diesem Alter schließlich heraus.
Es ist zu vermuten, dass eine ganze Reihe von ihnen durch Familie, Beruf
und andere Lebensziele für die Szene verloren gehen und nicht mehr
auffällig sein werden. Ich will die braune Jugendgewalt nicht verharmlosen.
Aber es könnte sein, dass für einige Gewalttäter dieser
Lebensabschnitt als Jugendsünde abgebucht werden kann.
Allerdings
ist mir klar, dass sich in ihren Köpfen nicht allzu viel ändert
und sich bei der Mehrheit ein bestimmtes rechtes Stammtischmilieu verfestigen
wird. Wenn wir also Notausgänge schaffen, um Jugendliche aus dem Teufelskreis
der Gewalt zu befreien, haben wir sie natürlich noch lange nicht aus
dem Teufelskreis rechtsextremer Gedanken befreit.
Ich
möchte, dass dieser rechten Jugendkultur entschlossen entgegengetreten
wird. Aber ich möchte nicht, dass nur gegeifert und Hysterie verbreitet
wird. Wenn ich solche deeskalierenden Sätze schreibe, denke ich oft,
ich will mir selber gut zureden. Auch in mir lauert die Panik, dass alles
gefährlicher sein könnte. Mich erreichen unterdessen Berichte
von Universitäten und Gymnasien, dass in unauffälligen Klamotten
und unter glattgescheitelten Haaren der Rechtsextremismus seinen Einzug
hält. Ich fürchte, dass auf die dumpfen Schläger der Skins
und der Kameradschaften jetzt die dumpfen Denker folgen. Ich frage mich,
ob aus esoterischem Geraune, völkischen Mythen und nationaler Hybris
wieder ein Gedankengebräu entsteht, das auch Intellektuelle trunken
macht. Sicher, es sind erst einzelne Fälle. Aber fachliche Fähigkeiten
schützen offensichtlich nicht vor Irrwegen. Die deutschen Hochschulen,
ihre Professoren und ihre Studenten waren schon einmal Hochburgen des Rechtsextremismus
und verhalfen dem Nationalsozialismus zum Sieg.
Wir wissen,
dass rechtsextreme Parteien in unserem Bereich vor allem von jungen Männern
gewählt werden. Aber der organisatorische Aufbau dieser Parteien ist
sehr schwach. Wir stehen also nicht am Vorabend einer Machtübernahme
durch die rechten Parteien. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die
Rechten eine Beteiligung an einer deutschen Landes- oder Bundesregierung
erreichen könnten. Zur Panik oder Aufgeregtheit ist auf diesem Felde
sicher noch kein Grund vorhanden.
Ich
habe bis jetzt von den Auffälligen in der jungen Generation gesprochen.
Alle Untersuchungen ergeben, dass Versatzstücke rechtsextremen Denkens
auch bei „unauffälligen“ Jugendlichen zu finden sind und bis weit
in die Mitte der Gesellschaft reichen. Die Welt ihrer Mütter und Väter
ist voll solchen Gedankengutes. Stammtischparolen, die von Ausländerfeindlichkeit
und Deutschtümelei zeugen, können einem bei ganz „normalen“ Menschen
begegnen.
„Gesicht
zeigen“ ist unser Anspruch, doch manchmal fühlen wir uns überfordert,
wegen jeden rechtspopulistischen Geredes Zeit und Energie zu vergeuden.
Aber vielleicht liegt gerade hier die große Gefahr. Der öffentliche
Widerspruch gegen rechtsextreme Gewalttaten und ihren Gedankenhintergrund
sowie Demonstrationen mit Gesinnungsfreunden sind einfache Übungen
bürgerschaftlichen Engagements. Aber das rechte Gerede von Nachbarn,
denen man täglich begegnet, die offensichtlich nicht wissen, was sie
von sich geben, bringt uns immer wieder zum Verstummen. Diese rechtsorientierten
Mitbürger sind in ländlichen Regionen oft in Vereinen aktiv.
Ihr bürgerschaftliches Engagement ist hoch. Sie sind angesehen in
der Gemeinde. Diese Situation macht mir noch einmal klar, welche Schwierigkeiten
die politischen Akteure vor Ort haben, wenn sie mit dieser Situation umgehen
sollen. Wahrscheinlich gibt es dafür keine Patentlösung. Oft
fällt es den politischen Verantwortungsträgern in den Kommunen
schwer, das Wirken dieser Kräfte unüberhörbar zu kritisieren.
Sie fürchten um den Ruf ihres Ortes und haben Angst davor, dass sie
wirtschaftlichen Schaden erleiden könnten. Als in den USA davor gewarnt
wurde, bestimmte Regionen in Sachsen-Anhalt zu besuchen, weil die Minderheitenfeindlichkeit
besonders stark sei, gab es lauten Protest auf den Leserbriefseiten der
Regionalzeitungen. Es wurde der Vorwurf erhoben, dass solche öffentliche
Brandmarkung ungerechtfertigt Orten und Regionen einen schlechten Ruf einbringen
würde. So ist die Neigung groß, die Situation zu verharmlosen.
Das Wegsehen steht hoch im Kurs. Manche können der Versuchung nicht
widerstehen, der rechten Jugendszene Räume anzubieten, damit sie nicht
mehr auffällig in der Öffentlichkeit sind. Wer ihnen Stützpunkte
gibt, finanziert mit öffentlichen Mitteln ihre Ausbreitung in der
Gesellschaft.
Um der
tiefen Schatten unserer deutschen Vergangenheit und der Verantwortung für
die Verbrechen der nationalsozialistischen Zeit willen kann es keine Verharmlosung
rechtsradikalen Engagements und Gedankenguts geben. Parteien, Kirchen,
Gewerkschaften, Sportverbände, alle Träger öffentlicher
Verantwortung sollten entschieden und öffentlich deutlich machen,
dass der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland keinen Platz
hat. Der Staat muss daher genügend Mittel bereitstellen, damit die
alternative Jugendkultur nicht wegbricht, sondern wachsen kann. Die Opfer
rechter Gewalt müssen öffentlich wahrgenommen werden und sollten
die moralische und finanzielle Unterstützung vom Staat und seinen
Bürgerinnen und Bürgern erhalten. Aufklärung über das
gefährliche Weltbild der Rechtsextremen muss mit modernen pädagogischen
Methoden zu einem Schwerpunkt politischer Bildung werden. Wir haben es
mit einem Langzeitprogramm zu tun. Einstellungen, die über Generationen
gewachsen sind, ändern sich nicht von heute auf morgen. Wir werden
keine schnellen Erfolge verbuchen können. Geduld ist notwendig. In
der ostdeutschen Gesellschaft warten wichtige Aufgaben auf die demokratischen
und weltoffenen Kräfte.
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