Pastors Bart

Ich war 1958 bis 1975 Pfarrer in Meßdorf in der Altmark. 1968 hatte ich die Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden erregt. Der Prager Frühling war durch sowjetische Panzer beendet worden. Ich war maßlos enttäuscht, denn ich hoffte damals auf einen demokratischen Sozialismus, den ich dem demokratischen Kapitalismus vorzog. Die Leserinnen und Leser von heute sollten sich über so einen Satz nicht aufregen. Die politischen Leitwölfe der Berliner Regierung hatten seinerzeit Träume, die sich wesentlich von ihrer heutigen Realpolitik unterscheiden. Sie haben allerdings ausgeträumt, ich noch nicht. Aber sei es, wie es sei. Damals habe ich laut und vernehmlich in Stendal auf einem Kreiskirchentag verkündet, die beiden Systeme des Kalten Krieges seien unfähig, Demokratie und Frieden zu bewahren. Wie Sand im Getriebe sollte der Widerstand von unten sein.

Daraufhin reagierte die Kreisdienststelle des MfS. Sie besuchten meine Nachbarn und fragten sie nach unseren familiären Verhältnissen aus. Diese erzählten Geschichten über meine Kinder, die sowieso alle wussten. Die beiden Söhne und die Tochter seien mächtig intelligent, wurde den Schnüfflern erklärt. Aber der eine Sohn liefe mit langen Haaren herum, hätte Jeans an, liebe Beatmusik und Mädchen. Und der andere würde am laufenden Band Ulbricht-Witze erzählen. So füllten sich die Akten mit dumpfbackigen Notizen zur persönlichen Lebensführung von Kindern und Jugendlichen. Es ist komisch und grauselig zugleich. Die piefigen kleinen Bürgern saßen in den Amtsstuben der Stasi und behaupteten, sie würden so die Flamme der Revolution und den Fortschritt der Menschheit verteidigen. Dabei verkörperten sie durch ihre Bosheit, durch ihr Misstrauen und ihre Rachsucht das Klima des real-existierenden Sozialismus.

Lange überlegten die Herren, ob sie nicht das Pfarrhaus in unserer Abwesenheit besichtigen könnten. Es ist nicht gelungen. Neugierige Dorfnachbarn sind so etwas wie ein antigeheimdienstlicher Schutzwall. Aber einen ehemaligen Spielgefährten meines Sohnes hatten sie sich gegriffen. Wie er in die Mühle geraten ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war er kein Überzeugungstäter, der mit Lust Jagd auf den Klassenfeind machte. Ein Bericht von ihm über uns liegt vor. Als ich ihn las, musste ich an Schwejk denken. Er erzählte, ich sei unheimlich klug. Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin würden meine Bücherregale füllen. Von Stalin besaß ich nichts. Von Lenin nur zwei Bände. Allerdings stand die vielbändige blaue Marx-Engels-Ausgabe in meiner Bibliothek. Dann wusste er weiter zu berichten, dass wir sehr gastfreundlich seien. Menschen aus nah und fern würden unser Haus bevölkern. Und schließlich sei ich im Dorf sehr beliebt, weil ich alte Leute und Kinder mit meinem Auto ins Krankenhaus fahren würde. Aber nun hätte mein Ansehen sehr gelitten, ich hätte mir einen Bart stehen lassen. Ich kann mir nicht helfen, ich kann dem jungen Mann von damals überhaupt nicht böse sein. Er zählt nur positive Sachen über mich auf und dann fiel ihm ein, irgendwas Negatives muss er doch auch noch sagen. So kam er auf meinen Bart. Die Leute im Dorf sagten tatsächlich: “Herr Pastor, der Bart entstellt Sie!”

Ich will die Situation von damals nicht verniedlichen. Es ist unbestritten, dass in der DDR die Freiheitsrechte mit Füßen getreten wurden und Menschen aus politischen Gründen hinter Gefängnismauern verschwanden. Der Geheimdienst verbreitete Angst und Schrecken. Und doch war der Staat keine Hölle. Menschen trainierten die Bewahrung ihrer Würde, und selbst mein Hausspitzel speiste die Stasi mit einem Bericht ab, der eher in eine satirische Zeitschrift als in die Akte über einen Staatsfeind gehörte. Die DDR hatte viele Gesichter. Das wirkliche Leben von damals verschwindet hinter den eindeutigen Verdammungsurteilen von heute.

Solche Geschichten aus den Akten der Opfer für die Öffentlichkeit auszugraben, wäre schwierig, wenn das Stasiunterlagengesetz nun im Sinne Helmut Kohls novelliert würde. Nach dem Kohl-Urteil können auch wichtige Personen der Zeitgeschichte ihre Akten für die Öffentlichkeit sperren. Es war der Wille der letzten Volkskammer der DDR, dass das Wirken der Staatssicherheit in seiner ganzen Fürchterlichkeit und in seiner ganzen Lächerlichkeit im Licht der Öffentlichkeit erscheint. Die Schlussstrichmentalität von heute macht die Absicht von damals unmöglich. Es sieht so aus, als ob ostdeutsche Hoffnungen westdeutschen Interessen geopfert werden, damit das Agieren der Eliten im Dunkeln bleibt.

zurück