Manchmal erfüllen sich Träume -
Ostdeutschland im Jahre 2032

oder der Ausflug zweier Buchstaben

Am 8. August 2031 findet zum 26. Mal das so genannte Hoyerswerdaer Spektakel statt. An 20 anderen Plätzen im Osten der EU-BRD werden an diesem Tag ähnliche Feiern durchgeführt. Die Veranstalter wählten einst nicht umsonst dieses Datum. Unheilserinnerungen sollten wach gehalten werden. Als sie sich zum ersten Mal trafen, lagen die Atombombenabwürfe der USA in Japan 60 Jahre zurück, am 6. August 1945 über Hiroshima und am 9. August 1945 über Nagasaki. An jenem 8. August 2005 sollte der Niedergang Ostdeutschlands als Großkatastrophe dargestellt werden. Die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten sei für das Gebiet der ehemaligen DDR in ihren Folgen mit einem Atomschlag zu vergleichen, hatten die Rednerinnen und Redner von damals in ihre Manuskripte geschrieben.

Auch heute würde die alte Leier wieder ertönen. Am Rande eines ehemaligen Braunkohletagebaus hatte sich der Verein „Augusttreffen der Ostgeschädigten“ ein großes Areal vom Land Brandenburg gekauft. Mit Fördermitteln in zigfacher Millionenhöhe und mit umfangreichen AB-Maßnahmen wurde eine Imitation des sozialistischen Hoyerswerda nachgebaut. Am 8. August 2005 wurde die Kunststadt eingeweiht und dann dem Verfall preisgegeben. Auch heute dröhnen alte Aufbaulieder der DDR vom Band durch das Rund. Dann kommt vom Rand der Kunststadt näselnde Trauermusik. Die Jammer-Ossis als Schulkinder verkleidet hüpfen im Dreischritt zur Untergangsfeier. Damals gab es einen riesigen Presseauftrieb. Der neugewählte Ministerpräsident von Brandenburg musste zwar die ganze Fete bezahlen, aber er durfte die Stadt nicht betreten. Trotzdem erschien er an dem zugedachten Interviewplatz vor ihren Toren. Die völlig verarmten 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der ersten Springprozession hatten sämtliche Freiflächen mit ihren Autos zugeparkt, aber 20 m² wurden für den dynamischen Ministerpräsidenten ausgespart. Er wurde gefragt, warum er die vielen Millionen für die Scheinstadt und die Scheinarbeit ausgegeben hätte. Er erklärte leicht lächelnd: „Lieber 50.000 in diesem Stadtzirkus als auf den Straßen des Landes.“

26 Jahre später ist vieles anders. Die Töchter von Regine Hildebrand und Marianne Birthler regieren das Land – oder sind es die Enkelinnen? Ich weiß es nicht genau. Kein Regierungsmitglied erscheint mehr vor den Toren der Scheinstadt. Die Weltpresse ist verschwunden. Geblieben sind die regionalen Anzeigeblätter. Die Prozession ist sehr klein geworden. Das Stadtimitat ist jetzt so richtig ramponiert. Die Veranstalter sielen sich voller Wonnen in ihren Vorurteilen.

Das kleine grüne „ü“ sitzt auf der Journalistenbank und wundert sich sehr über den Gespensterzug. Ich kann mich noch gut an seine Geburt Anfang 1998 in Bonn erinnern. Sehr stolz waren Mutter Gunda und Vater Jürgen. Nun sind sie auf dem Altenteil. Das Kind ist auch schon 33 Jahre alt. Zur Taufe durfte damals nur erscheinen, wer 5 Mark für einen Liter Benzin bezahlte und den Kosovo-Krieg unterstützte. – Ein heute längst vergessener Konflikt in der Euro-Zone Balkan. Also wie gesagt, das kleine grüne „ü“ sitzt auf der Bank und wundert sich. Aber so ist es mit Sekten. Sie leben in ihrer Scheinwelt. Die Wirklichkeit ist ihnen egal. „Schade“, ruft das kleine grüne „ü“, denn viele Freundinnen und Freunde von damals sind heute bei dieser Prozession. Schließlich hat es genug. Es steht auf und geht zu seinem am Bahnhof gemieteten Solarmobil und fährt ein paar Kilometer zum nächsten Schienenanschluß. Unterwegs ruft es den nächsten Schienenknotenpunkt an, damit dort eine automatische Zweisitzerkabine bereitgestellt wird. Ach ja, das hatte ich ganz vergessen, es war mit seinem Freund, dem großen ostdeutschen „O“ vor Ort gewesen. Sie steigen ein und ab geht es nach dem wirklichen Hoyerswerda.

Das kleine grüne „ü“ und das große ostdeutsche „O“ setzten sich in ein buntes italienisches Kaffee am Rand des neu entstandenen Stadtparks. Menschen aus aller Herren Länder flanieren am späten Nachmittag über die Wege. Das große ostdeutsche „O“ kann sich noch an die Erzählung seiner Eltern erinnern , dass die damaligen Bewohner von Hoyerswerda Ausländer mit Steinen aus der Stadt vertrieben haben. Unterdessen wird von allen politischen Kräften die EU-BRD als Einwanderungsland angesehen. Aber das ist auch gar kein Wunder, schließlich ist Cem &Öuml;zdemir Bundeskanzler geworden – er ist jetzt auch schon im Ruhestand - und die Tochter von Edmund Stoiber ist Vizekanzlerin. Die einst große christliche Volkspartei hat sich zu einer kleinen engagierten Menschenrechtspartei gewandelt. Die ehemaligen Bündnisgrünen sind zu einer gemäßigt ökologisch-ökonomischen und halb-pazifistischen Volkspartei geworden. Die PDS und die SPD bilden jetzt eine konservative sozialistische Einheitspartei. Die ehemalige kleine Kapitalistenpartei, ihr Name fällt mir jetzt nicht mehr ein, ist seit etwa 10 Jahren verschwunden. Ob es in Deutschland so sehr viel gerechter zugeht, weiß ich nicht, aber ein bisschen schöner ist es schon.

Das kleine grüne „ü“ und das große ostdeutsche „O“ sind sich einig, dass das Leben Spaß macht, auch und gerade im Osten der EU-BRD. Das muffige Spießertum ist bis auf winzige Reste einem weltoffenen, toleranten Umgang miteinander gewichen. Und erst die Schulen! Einst die Sparstrümpfe der Politik, dumpfe kasernenähnliche Kästen und eine kleinmütige Lehrerschaft, sie sind heute Orte, wo die Heranwachsenden zu Menschen reifen können, die sich lebendig und klug den Fragen des Alltags stellen können. Die Mitbestimmung aller ist selbstverständlich. Keine Pauk-Schulen, keine autoritären Pauker, jedenfalls sind die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Daß die Wirklichkeit immer noch einmal anders aussieht, weiß ich auch. Gott sei dank, sind wir nicht verpflichtet, das Paradies zu schaffen. Trotzdem müssen wir das Elend dieser Welt nicht tatenlos erdulden.

Aber wie es auch sei, das reale Hoyerswerda von heute ist nicht zur öden Stadt verkommen, durch deren Straßen nur noch zahnlos mummelnde Greise schlürfen. Man hört Kinderlachen in einem lebendigen Ort. Die Statistiker wollten ihren Zeitgenossen im Jahre 2001 einreden, dass Deutschland vergreise. Aber sie waren nicht wie Kassandra, die ein unausweichliches Schicksal ankündigte, sondern wie die Unheilspropheten des alten Testamentes die Umkehr vom falschen Weg für möglich hielten. Das ist schon richtig, damals gingen viele in den Westen der BRD, weil es im Osten wenig Arbeit gab und die vorhandene Arbeit schlecht bezahlt wurde. Vor allem Bayern und Baden-Württemberg zogen die Leute an, weil damals dort der modernste Industriestandort war. Anfang der 20er Jahre änderte sich die Tendenz. Die Ostmitteleuropäergehörten längst schon zur EU. Aber um den Wirtschaftsgiganten Nord- und Südamerika, der zu einem Wirtschaftsraum geworden war, zu begegnen, wurden Russland und alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion des vorigen Jahrhunderts assoziierte Mitglieder der EU. Ein riesiger Markt eröffnete sich. Wirtschaftswachstum wurde ohne bedrohliche ökologische Schäden möglich. Eine neue Generation von industriellen Produkten brauchte der Markt. Der industrielle Schwerpunkt wanderte aus unterschiedlichen Gründen nach Ostdeutschland. So hat man Mitte der 20 Jahre bei Hoyerswerda eine Fabrik gebaut, die Kleinkabinen für die Schiene für Personen und Kleingüterverkehr im Nahbereich produzierte. Der Laie kann die Einzelheiten dieses technischen Wunderwerkes im neuen Brockhaus von 2026 nachlesen. Er liegt auch in Buchform vor. Gott sei dank, gibt es immer noch Bücher. Das Ende des Büchermachens wurde ja vorausgesagt. Alles sollte im Netz stehen. Bei mir stehen sie noch im Regal. Ich kann sie anfassen, riechen, in ihnen blättern. Und mein Verhalten gilt nicht einmal als altmodische – ein bisschen vielleicht doch.

Das kleine grüne „ü“ und das große ostdeutsche „O“ sitzen immer noch im italienischen Kaffee. Das große ostdeutsche „O“ ist im Herbst  1989 in Berlin geboren worden. Seine Mutter Bärbel und sein Vater Rainer haben sich gleich nach der Geburt gründlich verzankt. Und so wurde aus dem geplanten Unternehmen Reform der DDR nichts. Das große ostdeutsche „O“ kann sich aber noch gut an die Frühzeit 2001/2002 erinnern. Die Politik bremste den Weg zur Wissensgesellschaft. Die Universitäten erhielten kein Geld. Die Professoren konnten sich nicht auf die neue Zeit einstellen. Einmal Professor, immer Professor, war die Devise. Die Erhöhung der Gehälter wurde nicht an die messbare Leistung geknüpft, sonder an die verbrauchten Jahre im Hochschulamt. Die Studenten hatten kaum Mitspracherecht. Wenn die Hochschulreform nicht gekommen wäre, dann wäre die neue Blüte im Osten nicht entstanden. Die von der Hoyerswerdaer Springprozession hätten recht behalten. Dem großen ostdeutschen „O“ fielen noch viele Dinge ein, die die eigentliche gesellschaftliche Wende der EU-BRD gebracht haben und von dem es noch unbedingt dem 8 Jahre jüngeren kleinen „ü“ erzählen müsste. Von der Schulreform war schon die Rede. Der Wirtschaftsaufschwung wurde auch schon genannt. Von der Universitätsreform hatte es gerade erzählt. Aber drei Dinge musste es unbedingt noch nennen, die 2031 selbstverständlich sind, aber vor 26 Jahren noch als spinnerte Utopie abgelehnt wurden. Die Landwirtschaft, damals beherrscht von Agrarfabriken, die ohne Rücksicht Boden und Tiere wie Produktionsinventar behandelten, hat sich mühselig und Schritt für Schritt gegen eine aggressive Berufsstandsvertretung in eine andere Richtung entwickelt. &Öuml;kologischer Landbau und direkte Vermarktung sind heute eine Selbstverständlichkeit. Allerdings muß man dazu sagen, dass sich auch die Eßgewohnheiten und überhaupt die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung verändert haben. Vor über 30 Jahren sagte die damalige deutsche Landwirtschafts- und Verbraucherministerin Renate Künast: „In unsere Kühe kommen nur noch Wasser, Gras und Getreide!“ Klasse wollte sie statt Masse. Sie wollte die Verbraucherinnen und Verbraucher vor vergiftetem Fraß schützen. „Hör auf!“, winkte das kleine grüne „ü“ ab, „das haben wir alles schon an der Schule und in der Uni 100 mal durchgekaut. Immer müsst Ihr mit den alten Erfolgsstories kommen!“ Das große ostdeutsche „O“ seufzte leise und dachte: Wenn es wüsste, was wir damals für ein Theater hatten. Sollte es nun dem kleinen grünen „ü“ noch erzählen, dass die plebizitären Elemente in der alltäglichen Politik von heute mühselig erstritten wurden, dass die vernünftige Verknüpfung von Straße und Schiene im Personen.- und Güterverkehr gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt wurde. Was weiß das kleine grüne „ü“ noch von den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen um den endgültigen Ausstieg aus der Atomindustrie und von der Entstehung einer neuen Energiepolitik. Alles ist ihm so selbstverständlich.

Lassen wir die Agitation, denkt das große ostdeutsche „O“ an diesem schönen Nachmittag im August. Die Sonne scheint in Hoyerswerda. Die Springprozession wegen der Scheinkatastrophen werden sicher bald verschwunden sein. „Willst Du noch einen Kaffee?“, fragt das große ostdeutsche „O“. „Oh ja“, antwortet das kleine grüne „ü“ und beide können sich nicht mehr erinnern, dass es Zeiten gab, wo jede Tasse Kaffee das Elend der Plantagenarbeiter verstärkte. Es wird dunkel und man hört von Ferne lachen. Manchmal erfüllen sich Träume.

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