In: Politische Bildung in der Bundesrepublik - Zum dreißigjährigem Bestehen der Deutschen Vereinigung für politische Bildung, 1. Auflage, Leske und Budrich 1996

Politische Bildung in der Krise?

Als vor dreißig Jahren in der Bundesrepublik die Deutsche Vereinigung für politische Bildung e.V. gegründet wurde, lebten wir Ostdeutschen noch auf einem anderen Kontinent. Die deutsche Teilung war durch die Mauer nach unserer Meinung endgültig besiegelt. Wir richteten uns in einem System ein, für das politische Bildung nicht die Fähigkeit entwickeln sollte, sich kritisch den Fragen der Zeit zu stellen. Vermittlung von politischer Heilslehre war angesagt. Der politische Unterricht in der Schule verstand sich als die Verbreitung der wahren Lehre des unfehlbaren Marxismus-Leninismus. Und nur in den Nischen der Gesellschaft und in der eingeschränkten Öffentlichkeit der Kirchen konnte man sich den Phrasen entziehen und den Kopf frei bekommen für eigene politische Urteile. Das Ende der DDR ist gerade fünf Jahre her. Viele Menschen im Osten sind wie betäubt vom Systemwechsel. Ein Staat verblich, aber die eingeübten Verhaltensmuster der Bevölkerung bleiben. Anpassung haben wir in Jahrzehnten trainiert.

Politische Bildung in der Krise der Industriegesellschaft

Wir sind in dem Augenblick in der westlichen Industriegesellschaft angekommen, da ihre Krise unüberschaubar ist. Die fortschreitende Rationalisierung in den industriellen Kernen verursacht eine hohe Arbeitslosigkeit. Alle politischen Kräfte wollen die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen, aber ich fürchte, es bleibt bei leeren Reden. Dabei ist das kein böser Wille, sondern unsere gemeinsame Unfähigkeit, die Arbeitswelt neu zu organisieren. Angesichts der Verteilungskämpfe geraten auch immer mehr wichtige Stützpfeiler der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr. Der Solidarpakt zwischen den Generationen und zwischen Arm und Reich gerät ins Wanken. Seit einiger Zeit wird über das soziale Netz heftig gestritten. Die einen meinen, in Deutschland sei die soziale Absicherung zu komfortabel ausgestattet. Andere aber sehen das Ende des Sozialstaates herannahen. Die Zerstörung der natürlichen Bedingungen unseres Lebens zeigt erste Folgen, die auch wahrnehmbar sind. Die Konsequenzen der europäischen Zivilisation, ihre Wertehierarchie, stellen die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit. Ich bezweifele, daß die Erziehungsziele im Elternhaus, in der Schule und in der Gesellschaft dieser Herausforderung der Zeit gerecht werden. Der Machbarkeitswahn und der Fortschrittsglaube, der dem quantitativen Aufwuchs und der Effizienz verfallen ist, führen uns in die Irre. Politische Bildung in Deutschland, und dann womöglich in den Schulen in Wochenstunden vermittelt, wird sich als wirkungslos in dieser Situation erweisen. Wir haben es eben nicht mit einem pädagogischen Problem, sondern mit einer Sinnkrise zu tun. Ich will ja nicht bestreiten, daß Wissensvermittlung im Unterricht eine Aufgabe sei. Aber die neuen Lebensformen, eine sich ändernde Sinndeutung, vermitteln nicht die Schulen. Sie wachsen eben nicht aus der Gesellschaft, sondern gegen die Gesellschaft. Ich bin mir ziemlich sicher, daß die Erschütterungen des politischen und gesellschaftlichen Systems, die auf uns zukommen werden, die wilden sechziger Jahre der Bundesrepublik Deutschland übertreffen werden.

Politische Bildung der Zukunft - alles offen?

Von daher bin ich ganz und gar hilflos, wenn ich sagen sollte, wie sich denn politische Bildung - und dann auch gleich noch in den kommenden Jahrzehnten - gestalten sollte. Ich vermute, daß flächendeckende und Jahrzehnte umfassende Programme das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt werden. Wer gegen den heraufziehenden Sturm arbeiten will, wird sich nicht hinter dem Wall von Programmen verschanzen können. Ich muß mich schon einlassen auf das Gespräch, auf die offene Situation, auf ein Leben ohne fertige Antworten, auf partnerschaftliches Verhalten. In kleinen informellen Gruppen, in den kritischen Minderheiten der Gesellschaft, wächst eine Lebensform heran, die der Gewalt gegen Natur und Menschen entgegenwirkt. Das hoffe ich manchmal, und manchmal denke ich, ich irre mich, es wird sich nichts ändern. Aber in diesen Spuren einer anderen Zeit liegt meine ganze Zuversicht. Politische Bildung dieser Art ereignet sich in einem ganzheitlichen Akt menschlicher Existenz. Wir benötigen viele Orte in der Gesellschaft, in der dieser Prozeß einer Lebensentscheidung behutsam begleitet wird. Vielleicht ist das, was ich hier beschreibe, eine neue Form der politischen Bildung. Sie paßt sicher in keinen Fächerkanon oder öffentliche Veranstaltungen der politischen Erwachsenenbildung. Am nächsten kommt meine Vorstellung noch dem, was man im schulischen Bereich Projektunterricht nennt. Aber es ist eben auch nur eine Annäherung, um meine Idee zu beschreiben. Ich habe über viele Jahre zu DDR-Zeiten in unterschiedlichen Gruppen Menschen begleitet, die den aufrechten Gang trainieren und das selbstbestimmte Leben ausprobieren wollten. Für mich war das eine ganz wichtige Form, Menschen zu politischen und gesellschaftlichen Einsichten zu verhelfen. Schwierig ist, solch' eine Begleitung zu systematisieren, ich kann eigentlich nur von ihr erzählen. In diesem Sinne ist für mich politische Bildung immer konkret und entzieht sich einer Beschreibung von grundsätzlichem Inhalt. Von daher kann ich nicht - worum ich andere immer beneide - theoretische Seiten zu diesem Thema beschreiben. Ich will nur erinnern, nachdenklich stimmen und zum Gespräch ermutigen.

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