Spurensuche

- Anmerkungen zur Zivilgesellschaft in Ostdeutschland

Als die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus sein blutiges Ende gefunden hatte, als die Deutschen von einem verbrecherischen System befreit worden waren, übernahmen vorerst die Siegermächte die Herrschaft im zerstörten Land. Aber die Verbündeten von einst wurden zu Feinden im Kalten Krieg. Die Spaltung der Welt nach 1945 in zwei große Blöcke, die von den imperialen Großmächten, der USA und der UdSSR, dominiert wurden, spiegelte sich in der Nachkriegsentwicklung in Deutschland wider. Am Ende stand die Teilung des Landes.

Der DDR-Staat wurde ein Tendenzbetrieb. Er befand sich fest in der Hand einer Funktionärselite, die einst vom Paradies auf Erden geträumt hatte. Die Genossen behaupteten, sie hätten den Schlüssel der Geschichte gefunden. Damit schlössen sie die Tür auf, die in die lichte Zukunft der Menschheit führen würde. Ihre ideologischen Väter in der Sowjetunion, von Interventionen ausländischer Mächte bedroht und durch einen blutigen Bürgerkrieg bedrängt, entschlossen sich, die Macht im Staate mit Gewalt an sich zu reißen. Nur so wäre, verkündigten sie landauf landab, der Weg zur Vollendung des Kommunismus gesichert. Ihre Macht war nicht durch Wahlen legitimiert, sondern durch das ideologische Ziel. Streit der Meinungen hielten sie für überflüssig. Die westliche Demokratie war in ihren Augen ein besonderes raffiniertes Instrument in den Händen der Kapitalisten und ihrer politischen Helfershelfer, um die Macht der herrschenden Klasse zu festigen.

Die Machtfrage wäre in den realexistierenden sozialistischen Staaten ein für alle mal geklärt. Damit würde die Herrschaft durch die Vorhut der Arbeiterklasse ausgeübt. Das war die Partei. Und die hatte immer Recht. Wer widersprach, war ein Ketzer oder ein Heide. Er leugnete die richtige Lehre oder er hatte sie überhaupt noch nicht begriffen. Nach guter alter Tradition von Tendenzbetrieben wurden die Ketzer auf das Heftigste verfolgt. Sie wurden aus dem politischen Leben eliminiert. Die Heiden versuchte man zu bekehren. Aber wenn sie die erwarteten Gehorsamsrituale nicht vollzogen, hatten sie Repressionen zu befürchten.

Die ostdeutsche Regierung war der verlängerte Arm des Politbüros der SED. Alte autoritäre Männer hatten im Land das Sagen. Die Frauen spielten nur die zweite Geige im Konzert der Macht. Die Bevölkerung wurde politisch beschult und beschallt. Das Erziehungsziel war die sozialistische Persönlichkeit, die auf allen kruden Wegen der Partei hinterherlief. Wer den nächsten Politbürobeschluss verschlief, der den Kurs der Partei veränderte, konnte in arge Bedrängnis geraten. Es gab keine ungesteuerte Öffentlichkeit. Die Medien verkamen zur Hofberichtserstattung. Das Spiel von des Kaisers neuen Kleidern gehörte zum Alltagsritual. Und kaum einer wagte zu sagen: „Der ist doch nackt."

Durch dieses Klima von Gängelung und Drohung wurden die Bürgerinnen und Bürger der DDR geprägt. Sie trainierten die Anpassung im öffentlichen Raum. Dann konnten sie in der Regel erwarten, dass sie möglichst ungestört in ihrer privaten Nische leben konnten. So wurde aus der Flamme der Revolution, aus dem Aufbegehren gegen das Unrecht dieser Welt ein grauer Alltag, der von Spießern beherrscht wurde. Sozialistischer Biedermeier nannte Kurt Bartsch die kuschelige Ecke, in der sich die Träger der Macht, ihre Hörigen und die Gehorchenden sich eingerichtet haben.

Zwischen Wand- und Widersprüchen machen sie es sich bequem.
Links ein Sofa, rechts ein Sofa, in der Mitte ein Emblem.
Auf der Lippe ein paar Thesen, Teppiche auch auf dem Klo.
Früher häufig Marx gelesen. Aber jetzt auch so schon froh.
Denn das „Kapital“ trägt Zinsen: Eigenes Auto. Außen rot.
Einmal in der Woche Linsen. Dafür Sekt zum Abendbrot.
Und sich noch betroffen fühlen von Kritik und Ironie.
Immer eine Schippe ziehen, doch zur Schippe greifen nie.
Immer glauben, nur nicht denken und das Mäntelchen im Wind.
Wozu noch den Kopf verrenken, wenn wir für den Frieden sind?
Brüder, seht die rote Fahne hängt bei uns zur Küche raus.
Außen Sonne, innen Sahne – nun sieht Marx wie Moritz aus.
(Kurt Bartsch: Sozialistischer Biedermeier;
In: Zwiebelmarkt – Komisches und Satirisches aus drei Jahrzehnten – Gedichte;
Eulenspiegel Verlag 1978, S. 232)

Die Besserwisser beherrschten die Szene. Die Leute dachten nicht daran, zu widersprechen, denn sie wollten nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden. Sie wollten nicht, dass es ihnen erging wie dem Mäuschen in einer Fabel von Gerhard Branstner:

Als auch die Tierkinder zur Schule gehen mussten, wurde der Rabe zum Staatsbügerkundelehrer bestellt. Er nahm das Lehrbuch in die Hand und erklärte den Kleinen, wie positiv doch alles sei. Nicht einmal ein Wölkchen war auf dem Bild zu sehen, dass er von der Welt malte. Da blickte ein kleines Mäuschen aus dem Fenster und rief: „Herr Lehrer, es regnet!" Der Lehrer aber schaute in sein Buch, schüttelte den Kopf und sagte: "Regen ist hier nicht drin." "Es regnet aber wirklich!", rief das Mäuschen wieder. Da schrieb der Rabe dem Mäuschen eine Fünf wegen schlechten Betragens in das Heft. "Das kommt davon", krähte er, "wenn man während des Unterrichts aus dem Fenster guckt."
(Der Esel als Amtmann; Buchverlag der Morgen, 2. Auflage 1977; Nr. 40.)

Es gab nur Politik, die immer Recht hatte, und die Nische, in der man überleben konnte. So gingen die Leute dann zu den Wahlen, aber sie hatten nichts auszuwählen. Sie hingen ihre Fahnen raus, wenn es verlangt wurde. Sie besuchten die obligatorischen Demonstrationen. Erst wurde marschiert, die Ikonen der Mächtigen wurden durch die Gegend getragen, Losungen zierten Pappe und Stoffe, ganz Eifrige schrieen dann noch „Hoch, hoch, hoch!“. Den führenden Genossen der Partei der Arbeiterklasse der DDR, der unverbrüchlichen Freundschaft zur Sowjetunion galt das Gebrüll. Kaum waren die Menschen an den Ehrentribünen vorbei, stellten sie die Ikonen und die Losungen in die Ecke, beendeten die Hochrufe und ließen die Sau raus. Sie feierten mächtig. Sie aßen viel und tranken noch mehr, aber nicht, weil sie den hehren Feiertag begießen wollten, sondern weil sie den Tag angingen wie eine private Fete.

Unter diesen Bedingungen wächst kein gesellschaftliches Leben, in dem Bürgerinnen und Bürger sich für die öffentlichen Belange engagieren. Sie verlassen nicht die Nölnische. Sie werden nicht zur Partnerinnen oder zum Partnern der Mächtigen, sondern sie bleiben auf Dauer Untertanen. Deswegen ist der Boden für zivilgesellschaftliches Handeln in Ostdeutschland nicht gut vorbereitet. Die Studentenunruhen und die sozialen Bewegungen haben in den 60ern und 70ern Jahren die westliche Bundesrepublik entschieden verändert. Sie haben gesellschaftliche Prozesse in Gang gesetzt, die heute noch die Politik bestimmen. Ich erinnere nur an das Umweltbewusstsein, das die Atomkraftwerke zu einem Auslaufmodell gemacht hat. Weltoffenheit und Toleranz wurden zum Markenzeichen westlicher Gesellschaften. Dabei übersehe ich nicht, dass das kleinbürgerlich spießige Milieu auch in diesem Umfeld immer noch seine Heimstatt fand. Aber etwa in den urbanen Zentren der westlichen Bundesrepublik spürt man das Flair einer offenen Gesellschaft. Dagegen war die DDR stets eine kleinbürgerliche, fast ländliche Idylle. Peter Hacks hat das in seinem Gedicht „Mein Dörfchen“ treffend beschreiben:

Mein Dörfchen, das heißt DDR, hier kennt Jeder Jeden.
Wenn Sie in Rostock flüstern, Herr, hört Leipzig, was sie reden.
Das Mädchen, das zu lieben lohnt, kennt ihr Freund genauer.
Es gibt nichts Neues unterm Mond, nichts dieserseits der Mauer. (Peter Hacks: Mein Dörfchen
In: Zwiebelmarkt – Komisches und Satirisches aus drei Jahrzehnten – Gedichte;
Eulenspiegel Verlag 1978, S. 114)

Die Opposition der DDR war in der späten DDR zwischen 1970 und 1990 eine verschwindende Minderheit. Die Großkirchen waren nicht der Hort des Widerstandes. Die katholische Kirche besetzte ihre religiöse Nische, hasste die Kommunisten und verhandelte vielleicht einmal, wenn es um kirchliche Interessen ging. Aber die permanente Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger im Lande entlockte ihr keinen Protest. Die Mehrheit der Amtsträger beider Kirchen gingen zu Hofe, wenn es verlangt wurde. Nur wenige taten es gerne. Trotzdem schlossen sie ihre Kompromisse. Sie hatten ihre Position. Aber Opposition war nicht ihre Sache. Sie fürchteten eine noch stärkere Behinderung der kirchlichen Arbeit, falls sie aufmüpfig wurden.

Wer im Raum der DDR eine Großorganisation zusammenhalten wollte und eine Botschaft weitersagen musste, musste sich nach der Überzeugung der evangelischen Kirchen zwangsläufig an die Spielregeln halten. Sie waren der Meinung: Wir leben in diesem Lande und auch die wunderlichste Obrigkeit sei von Gott. Dieses Verhalten wurde beschrieben mit der Formel: Kirche im Sozialismus.

Es gab nur einzelne Pfarrerinnen und Pfarrer und wenige Gemeindekirchenräte, die ihre Kirche für die Ende 70er/ Anfang der 80er Jahre entstehenden oppositionellen Gruppen öffneten. Die waren die winzigen Inseln der Zivilgesellschaft in der DDR. Die Opposition sammelte sich unter den Dächern weniger Kirchen und doch wirkte die Gesamtheit der evangelischen Kirchen wie eine Schutzmantelmadonna für diese Minderheit. Aber das Verhältnis zwischen dieser Opposition und der Kirche war nicht ohne Spannung. Die Gruppen wollten die Öffentlichkeit, die Amtskirche wollte sie hinter ihren Mauern domestizieren. Sie wurde nicht zur Lokomotive. Sie stellte sich auch nicht vor die Gruppen, aber sie stand hinter ihnen.

Die deutsche Teilung brachte es mit sich, dass viele, die es satt hatten, die DDR verließen. Sie zogen von Deutschland nach Deutschland und gingen. So hat sich in der DDR nie nennenswertes zivilgesellschaftliches Milieu bilden können. Dieses Verhalten konnte kaum trainiert werden. Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung kam auch bei der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten als Untertanen in Gesamtdeutschland an. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR wählten mehrheitlich nicht die Oppositionellen, die maßgeblich den Zusammenbruch des Systems beschleunigt hatten. Sie hielten sich an die westdeutschen Autoritäten, von denen sie meinten, sie werden den Westen nach den Osten bringen.

Die Länder zwischen Elbe und Oder waren plötzlich Beitrittsgebiet. Man redet heute noch von den fünf neuen Länder, obwohl die geschichtlichen Wurzeln mancher ostdeutscher Länder weit zurückreichen. Ich erinnere nur an die Ottonen, die aus der Harzregion stammen und um die erste Jahrtausendwende Deutschland und Europa entschieden geprägt haben. Bald zeigten sich im Osten die gesellschaftlichen Defizite. Aus Untertanen werden nicht von heute auf morgen freiheitsliebende, tolerante, weltoffene und verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger. Das sind nämlich die Indegrenzien, aus denen die Zivilgesellschaft entsteht.

Bevor ich auf die Initiativen eingehe, die wir in Sachsen-Anhalt vorangetrieben haben, möchte ich noch eine Anmerkung machen. Rechtsextremisten marschieren wieder öffentlich durch die Straßen. Ihre Fremdenfeindlichkeit ist sprichwörtlich. Das kommt nicht von ungefähr. Auch das Wahlergebnis der DVU in Sachsen-Anhalt von über 12% ist kein blinder Schicksalsschlag. Die Prominenten der beiden großen Volksparteien in Deutschland haben das Asylrecht ausgehöhlt. Sie machten die Änderung im Grundgesetz möglich. Sie gaben die Losung aus, dass das Boot voll sei. Sie redeten und reden vom Sicherheitsrisiko, von maffiösen und terroristischen Strukturen, erwecken den Eindruck als wären alle Zuwanderer potentielle Täter. Sie wünschen sich für die Ankömmlinge Benimmregeln, an die sie sich als Gäste halten müssen. Der Terroranschlag von New York am 11.09.2001 war und ist Wasser auf ihre Mühlen. Eine offene Gesellschaft kann heimtückische Anschläge nicht ausschließen. Geheimdienste produzieren auch nicht mehr Sicherheit. Peinliche Pannen erschüttern immer wieder den Rechtsstaat. Der Bundesinnenminister Otto Schily musste gerade wieder Lehrgeld bezahlen.

Wenn dann in diesem aufgeheizten Klima der rechte Pöbel gewalttätig gegen die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vorgeht, dann ist die deutsche politische Prominenz betroffen. Kerzen müssen her. Trauergeschwängerte Reden wabern über die Straßen und Plätze im Land. Mir fällt dann immer ein: Biedermann und die Brandstifter. Mein Traum ist nach wie vor, dass die gleichberechtigte Zugehörigkeit von Menschen zu einem Gemeinwesen sich nicht von der ethnischen Herkunft ableitet, sondern von einer zeitlich bestimmten Anwesenheit in Deutschland. Vielleicht darf ich aus der jüdisch-christlichen Tradition zitieren: Ünterdrückt nicht die Fremden, die in eurem Land leben, sondern behandelt sie genau wie eures gleichen. Jeder soll seinen fremden Mitbürger lieben wie sich selbst. Denkt daran, dass auch ihr in Ägypten Fremde gewesen seid." (3. Buch Mose 19.33, 34)

Nach dem oben schon genannten Einzug der DVU in den Landtag von Sachsen-Anhalt musste nach meiner Meinung unbedingt etwas unternommen werden. Die Rechtsextremisten haben zwar eine große Wählerklientel unter jungen Männern, aber Wissenschaftler berichten uns immer wieder, dass ihre Erhebungen darauf schließen lassen, dass rechtsextremes Gedankengut bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden ist. Auch im Osten ist das so. Ich hatte immer gehofft, dass die antifaschistische Erziehung in den 40 Jahren DDR alte Überzeugungen der Bevölkerung verändert hatte. Aber offensichtlich hat das propagandistische Getöse nicht die Herzen der Menschen erreicht. Im Keller des Bewusstseins hat fremdenfeindlicher, deutschtümelnder Gedankenschutt die Zeit überdauert. Er ist in den Familien tradiert worden. Jetzt äußert er sich öffentlich.

Meine Freundinnen und Freunde haben darüber nachgedacht, wie wir tolerante, weltoffene und demokratische Kräfte im Land stärken können. Wir wollten verhindern, dass die Menschen im Schweigen versinken, wenn der rechte Mief in der Öffentlichkeit ruchbar wird. So haben wir ab November 1998 diskutiert, ob wir nicht einen Verein gründen sollten, der außerhalb der Großstädte im flachen Lande die kleinen Inseln zivilgesellschaftlicher Kultur vernetzen, stärken und vergrößern sollte. Dabei wollten wir nicht als Heilsbringer über das Land ziehen, die mit richtigen Rezepten ausgestattet Gutmenschen am Band produzieren. Wir wollten auch nicht dem Fehler der Antifa-Jugend verfallen, die das gesellschaftliche System der Bundesrepublik als Faschistenproduktionsstätte denunziert. So einfach kann man die Welt nicht erklären. Natürlich gibt es in der realexistierenden Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland faschistoide Züge. Aber es ist nicht so, dass das Land reif sei für die Machübernahme durch die Rechtsextremisten.

Wenn die NPD von nationalbefreiten Zonen redet, dann ist das noch lange nicht ein Flächenbrand, der das demokratische Gemeinwesen zerstören wird. Wir wollten unsere Kräfte nicht in erster Linie darauf konzentrieren, immer von Neuem rechtsextreme Horden aufzustöbern und sie öffentlich zu verklagen. Vielmehr wollen wir die stärken, die von vielen Gleichgültigen umgeben sind, sich trotzdem einer weltoffenen Gesellschaft verpflichtet fühlen. Noch im Jahre 1998 ergriffen die Landesregierung, die SPD- und PDS-Fraktion die Initiative. Die Landesregierung legte ein Programm auf und wünschte darin unter anderem ausdrücklich, dass sich ein parteiunabhängiger Verein gründen sollte. Im Haushalt wurde ein Betrag von 2 Mio. DM bereitgestellt. Ich habe auf Wunsch der Beteiligten für den Vorsitz des Vereins kandidiert und bin gewählt worden. Anfänglich gab es Querelen. In der Zeitung stand zu lesen, dass sei eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für einen abgehalfterten Politiker. Verschiedene Jugendmitarbeiter polemisierten auf das Heftigste. Sie meinten, der Verein sei überflüssig wie ein Kropf und würde nur Geld verbraten, das sie dringend benötigten. Unterdessen haben sich die Wogen geglättet. Der Verein Miteinander, Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt, ist zu einer anerkannten Einrichtung geworden. Wir haben in Kleinstädten, in Gardelegen, Aschersleben, Rosslau und Weißenfels, regionale Büros eröffnet. Wir haben uns bemüht, in jedem Büro eine Frau und einen Mann anzustellen, die für die inhaltliche Arbeit zuständig sind. Die eine Person sollte aus dem Westen, die andere aus dem Osten kommen.

Seit drei Jahren arbeiten wir in diesem Bereich. Überall entdecken wir Menschen, die bereit sind, sich für eine weltoffene und demokratische Gesellschaft zu engagieren. Jugendliche bauen einen stillgelegten Bahnhof aus. Erfüllen ihn mit Leben und Musik. Sie haben nicht auf einen Wink von oben gewartet, sondern machten sich von sich aus auf den Weg. Klänge des Lebens gehen von diesem Ort aus und nicht das dumpfe Gebrüll der Nazibarden. Schülerinnen und Schüler haben es satt, das in ihrer Stadt die Rechten die Bevölkerung terrorisieren. In einer öffentlichen Veranstaltung geben sie die Schutzpatrone des rechten Extremismus, zwei Landtagsabgeordnete der DVU, dem Gelächter der versammelten Schülerschaft preis. Überall bilden sich in den Kleinstädten des Landes Bündnisse für eine weltoffene Gesellschaft. Lehrerinnen und Lehrer lassen sich über die rechte Jugendkultur aufklären. Jugendliche reisen durch die Schulen, um mit ungewöhnlichen Methoden, mit viel Musik und Spaß für eine offene Gesellschaft zu werben. Ausstellungen über Kinderkonzentrationslager und über das Schicksal von Anne Frank werden in der Provinz eröffnet und erhalten die Erinnerung an die finstere Zeit in Deutschland wach. Schul- und Kindergartenprojekte werden von Zugewanderten und Asylbewerbern gestaltet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Büros knüpfen engagiert und behutsam zugleich an diesem entstehenden Netz, das die vielen Initiativen einer lebendigen Gesellschaft verbindet.

So werden die Erinnerungen an die Vergangenheit wach gehalten und die Gefahren für die Zukunft erkannt und benannt. Zwei Initiativen sollen hier für diese doppelte Bemühung vorgestellt werden. Unter dem Eindruck der Verzögerungstaktik der deutschen Wirtschaft hat eine kleine Gruppe von Menschen am 14. März 2001 sich mit dem Ziel zusammengefunden, in Eigeninitiative ehemaligen Zwangsarbeitern in Osteuropa konkret zu unterstützen, so lange sie noch am Leben sind. Der Initiator ist ein Pfarrer im Ruhestand und hat seine Kindheit in Lodz während des Krieges verbracht. Er ist täglich mit der Straßenbahn durch das Judenghetto gefahren. Geprägt von dieser Erinnerung und getrieben vom Zorn über das lange Zögern der Wirtschaft hat er sich zum Handeln entschlossen. Als sie sich schließlich bereit fand, doch in die Stiftung für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter einzuzahlen, wurde sehr schnell klar, dass viele der Betroffenen durch das bürokratische Netz fallen würden, weil sie den schlüssigen Nachweis ihrer Zwangsarbeit nicht beibringen konnten. Durch seine konkreten Beziehungen in die Stadt Lodz gelang es, 17 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern einen Betrag von je 1000 DM zu überreichen. Innerhalb von wenigen Monaten hatte die Initiative das Geld gesammelt. Die polnische Botschaft schreibt am 06.09.2001: "Ihre Initiative stößt auf einen wichtigen, moralischen Bedarf an Hilfe für diejenigen Opfer, die wegen der strengen Voraussetzungen bei der Entschädigungserteilung enttäuscht sein könnten. Sie haben ein Zeichen des guten Willens gesetzt, was für die Personen, aber auch für die polnische Gesellschaft sehr wichtig ist. Das Gedenken an die Opfer dank Ihrer Initiative wird sich nicht nur in statistischen Daten widerspiegeln, sondern hat einen zwischenmenschlichen Aspekt."

Solche Menschen verhindern, dass Gras über die finstere Vergangenheit Deutschlands wächst und eine Mauer des Schweigens die Erinnerung an die Verbrechen verhindert, die im Namen des deutschen Volkes geschahen. Auch der beschämende Teil unserer Geschichte ist ein Teil unserer gemeinsamen Vergangenheit. Wer das Unheil von einst genau betrachtet, wird heute um so schärfer hinsehen, wenn sich wieder Spuren in der Gesellschaft zeigen, die damals Deutschland in den Wahn trieben. "Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelt dazumal auf der Höhe wüster Triumphe... Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnungen tagen?". (Thomas Mann: Dr. Faustus; S.690; Aufbau-Verlag 1975) Ich hoffe, dass nie wieder die Klage von Serenus Zeitblom aus diesem Roman in Deutschland angestimmt werden muss.

Als in Folge der Terroranschläge vom 11.09.2001 sich der deutsche Bundesinnenminister Otto Schily entschloss, Sicherheitspakete durch das Parlament zu bringen, bildete sich in Sachsen-Anhalt eine kleine Bürgerinitiative. Ihr Motto: Wir lassen uns nicht erfassen – Initiative für Demokratie und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Die Verfasser ihres Aufrufs sind der Meinung, dass der so genannte Otto-Katalog die falsche Stoßrichtung habe. Er sei nicht geeignet, terroristischen und antidemokratischen Bedrohungen zu begegnen. Dazu sei er viel zu sehr verfangen in alten obrigkeitsstaatlichen und geheimdienstlichen Denkmustern, von denen sie glaubten, die Bürgerbewegung in Ost und West hätten sie 1968 und 1989 in den Keller der Geschichte gesperrt. Welche Gefahren drohen, wenn die Machtbefugnisse der Sicherheitsorgane erweitert und die demokratische Kontrolle abgebaut werde, habe die deutsche Geschichte mehrfach gezeigt. Nicht die Stärkung, sondern die Untergrabung der demokratischen Grundlagen wäre in der Regel die Folge gewesen. Demokratie heiße, dass die Balance gewahrt bleibe zwischen Ermittlungsinteressen, Bürgerrechten und demokratischer Kontrolle.

Das wird sicher keine Massenbewegung. Etwa 100 Bürgerinnen und Bürger haben bisher unterzeichnet. Aber hier warnt der Bürgersinn vor dem fürsorglichen Staat, der sehr schnell zum vormundschaftlichen Staat mutieren kann.

Der Osten ist also keine zivilgesellschaftliche Wüste. Aber wir sind noch nicht über den Berg, denn der Untertanengeist wirkt nach. Jedoch sind die Spuren einer wachsenden Zivilgesellschaft unübersehbar.

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