Spurensuche
- Anmerkungen zur Zivilgesellschaft in Ostdeutschland
Als die
Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus sein blutiges Ende gefunden hatte,
als die Deutschen von einem verbrecherischen System befreit worden waren,
übernahmen vorerst die Siegermächte die Herrschaft im zerstörten Land. Aber die
Verbündeten von einst wurden zu Feinden im Kalten Krieg. Die Spaltung der Welt
nach 1945 in zwei große Blöcke, die von den imperialen Großmächten, der USA und
der UdSSR, dominiert wurden, spiegelte sich in der Nachkriegsentwicklung in
Deutschland wider. Am Ende stand die Teilung des Landes.
Der DDR-Staat
wurde ein Tendenzbetrieb. Er befand sich fest in der Hand einer
Funktionärselite, die einst vom Paradies auf Erden geträumt hatte. Die Genossen
behaupteten, sie hätten den Schlüssel der Geschichte gefunden. Damit schlössen
sie die Tür auf, die in die lichte Zukunft der Menschheit führen würde. Ihre
ideologischen Väter in der Sowjetunion, von Interventionen ausländischer Mächte
bedroht und durch einen blutigen Bürgerkrieg bedrängt, entschlossen sich, die
Macht im Staate mit Gewalt an sich zu reißen. Nur so wäre, verkündigten sie
landauf landab, der Weg zur Vollendung des Kommunismus gesichert. Ihre Macht war
nicht durch Wahlen legitimiert, sondern durch das ideologische Ziel. Streit der
Meinungen hielten sie für überflüssig. Die westliche Demokratie war in ihren
Augen ein besonderes raffiniertes Instrument in den Händen der Kapitalisten und
ihrer politischen Helfershelfer, um die Macht der herrschenden Klasse zu
festigen.
Die
Machtfrage wäre in den realexistierenden sozialistischen Staaten ein für alle
mal geklärt. Damit würde die Herrschaft durch die Vorhut der Arbeiterklasse
ausgeübt. Das war die Partei. Und die hatte immer Recht. Wer widersprach, war
ein Ketzer oder ein Heide. Er leugnete die richtige Lehre oder er hatte sie
überhaupt noch nicht begriffen. Nach guter alter Tradition von Tendenzbetrieben
wurden die Ketzer auf das Heftigste verfolgt. Sie wurden aus dem politischen
Leben eliminiert. Die Heiden versuchte man zu bekehren. Aber wenn sie die
erwarteten Gehorsamsrituale nicht vollzogen, hatten sie Repressionen zu
befürchten.
Die
ostdeutsche Regierung war der verlängerte Arm des Politbüros der SED. Alte
autoritäre Männer hatten im Land das Sagen. Die Frauen spielten nur die zweite
Geige im Konzert der Macht. Die Bevölkerung wurde politisch beschult und
beschallt. Das Erziehungsziel war die sozialistische Persönlichkeit, die auf
allen kruden Wegen der Partei hinterherlief. Wer den nächsten Politbürobeschluss
verschlief, der den Kurs der Partei veränderte, konnte in arge Bedrängnis
geraten. Es gab keine ungesteuerte Öffentlichkeit. Die Medien verkamen zur
Hofberichtserstattung. Das Spiel von des Kaisers neuen Kleidern gehörte zum
Alltagsritual. Und kaum einer wagte zu sagen: „Der ist doch nackt."
Durch dieses
Klima von Gängelung und Drohung wurden die Bürgerinnen und Bürger der DDR
geprägt. Sie trainierten die Anpassung im öffentlichen Raum. Dann konnten sie in
der Regel erwarten, dass sie möglichst ungestört in ihrer privaten Nische leben
konnten. So wurde aus der Flamme der Revolution, aus dem Aufbegehren gegen das
Unrecht dieser Welt ein grauer Alltag, der von Spießern beherrscht wurde.
Sozialistischer Biedermeier nannte Kurt Bartsch die kuschelige Ecke, in der sich
die Träger der Macht, ihre Hörigen und die Gehorchenden sich eingerichtet haben.
Zwischen Wand- und
Widersprüchen machen sie es sich bequem.
Links ein Sofa, rechts ein Sofa, in der Mitte ein Emblem.
Auf der Lippe ein paar Thesen, Teppiche auch auf dem Klo.
Früher häufig Marx gelesen. Aber jetzt auch so schon froh.
Denn das „Kapital“ trägt Zinsen: Eigenes Auto. Außen rot. Einmal in der Woche Linsen.
Dafür Sekt zum Abendbrot.
Und sich noch betroffen fühlen von Kritik und Ironie.
Immer eine Schippe ziehen, doch zur Schippe greifen nie.
Immer glauben, nur nicht denken und das Mäntelchen im Wind.
Wozu noch den Kopf verrenken, wenn wir für den Frieden sind?
Brüder, seht die rote Fahne hängt bei uns zur Küche raus.
Außen Sonne, innen Sahne – nun sieht Marx wie Moritz aus.
(Kurt Bartsch: Sozialistischer Biedermeier; In:
Zwiebelmarkt – Komisches und Satirisches aus drei Jahrzehnten – Gedichte;
Eulenspiegel Verlag 1978, S. 232)
Die
Besserwisser beherrschten die Szene. Die Leute dachten nicht daran, zu
widersprechen, denn sie wollten nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden.
Sie wollten nicht, dass es ihnen erging wie dem Mäuschen in einer Fabel von
Gerhard Branstner:
Als auch die Tierkinder zur Schule
gehen mussten, wurde der Rabe zum Staatsbügerkundelehrer bestellt. Er nahm das
Lehrbuch in die Hand und erklärte den Kleinen, wie positiv doch alles sei. Nicht
einmal ein Wölkchen war auf dem Bild zu sehen, dass er von der Welt malte. Da
blickte ein kleines Mäuschen aus dem Fenster und rief: „Herr Lehrer, es regnet!"
Der Lehrer aber schaute in sein Buch, schüttelte den Kopf und sagte: "Regen ist
hier nicht drin." "Es regnet aber wirklich!", rief das Mäuschen wieder. Da
schrieb der Rabe dem Mäuschen eine Fünf wegen schlechten Betragens in das Heft.
"Das kommt davon", krähte er, "wenn man während des Unterrichts aus dem Fenster
guckt."
(Der Esel als Amtmann; Buchverlag
der Morgen, 2. Auflage 1977; Nr. 40.)
Es gab nur
Politik, die immer Recht hatte, und die Nische, in der man überleben konnte. So
gingen die Leute dann zu den Wahlen, aber sie hatten nichts auszuwählen. Sie
hingen ihre Fahnen raus, wenn es verlangt wurde. Sie besuchten die
obligatorischen Demonstrationen. Erst wurde marschiert, die Ikonen der Mächtigen
wurden durch die Gegend getragen, Losungen zierten Pappe und Stoffe, ganz
Eifrige schrieen dann noch „Hoch, hoch, hoch!“. Den führenden Genossen der
Partei der Arbeiterklasse der DDR, der unverbrüchlichen Freundschaft zur
Sowjetunion galt das Gebrüll. Kaum waren die Menschen an den Ehrentribünen
vorbei, stellten sie die Ikonen und die Losungen in die Ecke, beendeten die
Hochrufe und ließen die Sau raus. Sie feierten mächtig. Sie aßen viel und
tranken noch mehr, aber nicht, weil sie den hehren Feiertag begießen wollten,
sondern weil sie den Tag angingen wie eine private Fete.
Unter diesen
Bedingungen wächst kein gesellschaftliches Leben, in dem Bürgerinnen und Bürger
sich für die öffentlichen Belange engagieren. Sie verlassen nicht die Nölnische.
Sie werden nicht zur Partnerinnen oder zum Partnern der Mächtigen, sondern sie
bleiben auf Dauer Untertanen. Deswegen ist der Boden für zivilgesellschaftliches
Handeln in Ostdeutschland nicht gut vorbereitet. Die Studentenunruhen und die
sozialen Bewegungen haben in den 60ern und 70ern Jahren die westliche
Bundesrepublik entschieden verändert. Sie haben gesellschaftliche Prozesse in
Gang gesetzt, die heute noch die Politik bestimmen. Ich erinnere nur an das
Umweltbewusstsein, das die Atomkraftwerke zu einem Auslaufmodell gemacht hat.
Weltoffenheit und Toleranz wurden zum Markenzeichen westlicher Gesellschaften.
Dabei übersehe ich nicht, dass das kleinbürgerlich spießige Milieu auch in
diesem Umfeld immer noch seine Heimstatt fand. Aber etwa in den urbanen Zentren
der westlichen Bundesrepublik spürt man das Flair einer offenen Gesellschaft.
Dagegen war die DDR stets eine kleinbürgerliche, fast ländliche Idylle. Peter
Hacks hat das in seinem Gedicht „Mein Dörfchen“ treffend beschreiben:
Mein Dörfchen, das heißt
DDR, hier kennt Jeder Jeden. Wenn Sie in Rostock flüstern, Herr, hört
Leipzig, was sie reden. Das Mädchen, das zu lieben lohnt, kennt ihr Freund
genauer.
Es gibt nichts Neues unterm Mond, nichts dieserseits der Mauer.
(Peter Hacks: Mein Dörfchen In: Zwiebelmarkt –
Komisches und Satirisches aus drei Jahrzehnten – Gedichte; Eulenspiegel
Verlag 1978, S. 114)
Die
Opposition der DDR war in der späten DDR zwischen 1970 und 1990 eine
verschwindende Minderheit. Die Großkirchen waren nicht der Hort des
Widerstandes. Die katholische Kirche besetzte ihre religiöse Nische, hasste die
Kommunisten und verhandelte vielleicht einmal, wenn es um kirchliche Interessen
ging. Aber die permanente Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger im Lande
entlockte ihr keinen Protest. Die Mehrheit der Amtsträger beider Kirchen gingen
zu Hofe, wenn es verlangt wurde. Nur wenige taten es gerne. Trotzdem schlossen
sie ihre Kompromisse. Sie hatten ihre Position. Aber Opposition war nicht ihre
Sache. Sie fürchteten eine noch stärkere Behinderung der kirchlichen Arbeit,
falls sie aufmüpfig wurden.
Wer im Raum
der DDR eine Großorganisation zusammenhalten wollte und eine Botschaft
weitersagen musste, musste sich nach der Überzeugung der evangelischen Kirchen
zwangsläufig an die Spielregeln halten. Sie waren der Meinung: Wir leben in
diesem Lande und auch die wunderlichste Obrigkeit sei von Gott. Dieses Verhalten
wurde beschrieben mit der Formel: Kirche im Sozialismus.
Es gab nur
einzelne Pfarrerinnen und Pfarrer und wenige Gemeindekirchenräte, die ihre
Kirche für die Ende 70er/ Anfang der 80er Jahre entstehenden oppositionellen
Gruppen öffneten. Die waren die winzigen Inseln der Zivilgesellschaft in der
DDR. Die Opposition sammelte sich unter den Dächern weniger Kirchen und doch
wirkte die Gesamtheit der evangelischen Kirchen wie eine Schutzmantelmadonna für
diese Minderheit. Aber das Verhältnis zwischen dieser Opposition und der Kirche
war nicht ohne Spannung. Die Gruppen wollten die Öffentlichkeit, die Amtskirche
wollte sie hinter ihren Mauern domestizieren. Sie wurde nicht zur Lokomotive.
Sie stellte sich auch nicht vor die Gruppen, aber sie stand hinter
ihnen.
Die deutsche
Teilung brachte es mit sich, dass viele, die es satt hatten, die DDR verließen.
Sie zogen von Deutschland nach Deutschland und gingen. So hat sich in der DDR
nie nennenswertes zivilgesellschaftliches Milieu bilden können. Dieses Verhalten
konnte kaum trainiert werden. Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung kam auch bei der
Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten als Untertanen in Gesamtdeutschland
an. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR wählten mehrheitlich nicht die
Oppositionellen, die maßgeblich den Zusammenbruch des Systems beschleunigt
hatten. Sie hielten sich an die westdeutschen Autoritäten, von denen sie
meinten, sie werden den Westen nach den Osten bringen.
Die Länder
zwischen Elbe und Oder waren plötzlich Beitrittsgebiet. Man redet heute noch von
den fünf neuen Länder, obwohl die geschichtlichen Wurzeln mancher ostdeutscher
Länder weit zurückreichen. Ich erinnere nur an die Ottonen, die aus der
Harzregion stammen und um die erste Jahrtausendwende Deutschland und Europa
entschieden geprägt haben. Bald zeigten sich im Osten die gesellschaftlichen
Defizite. Aus Untertanen werden nicht von heute auf morgen freiheitsliebende,
tolerante, weltoffene und verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger. Das
sind nämlich die Indegrenzien, aus denen die Zivilgesellschaft entsteht.
Bevor ich auf
die Initiativen eingehe, die wir in Sachsen-Anhalt vorangetrieben haben, möchte
ich noch eine Anmerkung machen. Rechtsextremisten marschieren wieder öffentlich
durch die Straßen. Ihre Fremdenfeindlichkeit ist sprichwörtlich. Das kommt nicht
von ungefähr. Auch das Wahlergebnis der DVU in Sachsen-Anhalt von über 12% ist
kein blinder Schicksalsschlag. Die Prominenten der beiden großen Volksparteien
in Deutschland haben das Asylrecht ausgehöhlt. Sie machten die Änderung im
Grundgesetz möglich. Sie gaben die Losung aus, dass das Boot voll sei. Sie
redeten und reden vom Sicherheitsrisiko, von maffiösen und terroristischen
Strukturen, erwecken den Eindruck als wären alle Zuwanderer potentielle Täter.
Sie wünschen sich für die Ankömmlinge Benimmregeln, an die sie sich als Gäste
halten müssen. Der Terroranschlag von New York am 11.09.2001 war und ist Wasser
auf ihre Mühlen. Eine offene Gesellschaft kann heimtückische Anschläge nicht
ausschließen. Geheimdienste produzieren auch nicht mehr Sicherheit. Peinliche
Pannen erschüttern immer wieder den Rechtsstaat. Der Bundesinnenminister Otto
Schily musste gerade wieder Lehrgeld bezahlen.
Wenn dann in
diesem aufgeheizten Klima der rechte Pöbel gewalttätig gegen die ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger vorgeht, dann ist die deutsche politische Prominenz
betroffen. Kerzen müssen her. Trauergeschwängerte Reden wabern über die Straßen
und Plätze im Land. Mir fällt dann immer ein: Biedermann und die Brandstifter.
Mein Traum ist nach wie vor, dass die gleichberechtigte Zugehörigkeit von
Menschen zu einem Gemeinwesen sich nicht von der ethnischen Herkunft ableitet,
sondern von einer zeitlich bestimmten Anwesenheit in Deutschland. Vielleicht
darf ich aus der jüdisch-christlichen Tradition zitieren: Ünterdrückt nicht die
Fremden, die in eurem Land leben, sondern behandelt sie genau wie eures
gleichen. Jeder soll seinen fremden Mitbürger lieben wie sich selbst. Denkt
daran, dass auch ihr in Ägypten Fremde gewesen seid."
(3. Buch Mose 19.33, 34)
Nach dem oben
schon genannten Einzug der DVU in den Landtag von Sachsen-Anhalt musste nach
meiner Meinung unbedingt etwas unternommen werden. Die Rechtsextremisten haben
zwar eine große Wählerklientel unter jungen Männern, aber Wissenschaftler
berichten uns immer wieder, dass ihre Erhebungen darauf schließen lassen, dass
rechtsextremes Gedankengut bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden ist.
Auch im Osten ist das so. Ich hatte immer gehofft, dass die antifaschistische
Erziehung in den 40 Jahren DDR alte Überzeugungen der Bevölkerung verändert
hatte. Aber offensichtlich hat das propagandistische Getöse nicht die Herzen der
Menschen erreicht. Im Keller des Bewusstseins hat fremdenfeindlicher,
deutschtümelnder Gedankenschutt die Zeit überdauert. Er ist in den Familien
tradiert worden. Jetzt äußert er sich öffentlich.
Meine
Freundinnen und Freunde haben darüber nachgedacht, wie wir tolerante, weltoffene
und demokratische Kräfte im Land stärken können. Wir wollten verhindern, dass
die Menschen im Schweigen versinken, wenn der rechte Mief in der Öffentlichkeit
ruchbar wird. So haben wir ab November 1998 diskutiert, ob wir nicht einen
Verein gründen sollten, der außerhalb der Großstädte im flachen Lande die
kleinen Inseln zivilgesellschaftlicher Kultur vernetzen, stärken und vergrößern
sollte. Dabei wollten wir nicht als Heilsbringer über das Land ziehen, die mit
richtigen Rezepten ausgestattet Gutmenschen am Band produzieren. Wir wollten
auch nicht dem Fehler der Antifa-Jugend verfallen, die das gesellschaftliche
System der Bundesrepublik als Faschistenproduktionsstätte denunziert. So einfach
kann man die Welt nicht erklären. Natürlich gibt es in der realexistierenden
Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland faschistoide Züge. Aber es ist nicht
so, dass das Land reif sei für die Machübernahme durch die Rechtsextremisten.
Wenn die NPD
von nationalbefreiten Zonen redet, dann ist das noch lange nicht ein
Flächenbrand, der das demokratische Gemeinwesen zerstören wird. Wir wollten
unsere Kräfte nicht in erster Linie darauf konzentrieren, immer von Neuem
rechtsextreme Horden aufzustöbern und sie öffentlich zu verklagen. Vielmehr
wollen wir die stärken, die von vielen Gleichgültigen umgeben sind, sich
trotzdem einer weltoffenen Gesellschaft verpflichtet fühlen. Noch im Jahre 1998
ergriffen die Landesregierung, die SPD- und PDS-Fraktion die Initiative. Die
Landesregierung legte ein Programm auf und wünschte darin unter anderem
ausdrücklich, dass sich ein parteiunabhängiger Verein gründen sollte. Im
Haushalt wurde ein Betrag von 2 Mio. DM bereitgestellt. Ich habe auf Wunsch der
Beteiligten für den Vorsitz des Vereins kandidiert und bin gewählt worden.
Anfänglich gab es Querelen. In der Zeitung stand zu lesen, dass sei eine
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für einen abgehalfterten Politiker. Verschiedene
Jugendmitarbeiter polemisierten auf das Heftigste. Sie meinten, der Verein sei
überflüssig wie ein Kropf und würde nur Geld verbraten, das sie dringend
benötigten. Unterdessen haben sich die Wogen geglättet. Der Verein Miteinander,
Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt, ist zu einer
anerkannten Einrichtung geworden. Wir haben in Kleinstädten, in Gardelegen,
Aschersleben, Rosslau und Weißenfels, regionale Büros eröffnet. Wir haben uns
bemüht, in jedem Büro eine Frau und einen Mann anzustellen, die für die
inhaltliche Arbeit zuständig sind. Die eine Person sollte aus dem Westen, die
andere aus dem Osten kommen.
Seit drei
Jahren arbeiten wir in diesem Bereich. Überall entdecken wir Menschen, die
bereit sind, sich für eine weltoffene und demokratische Gesellschaft zu
engagieren. Jugendliche bauen einen stillgelegten Bahnhof aus. Erfüllen ihn mit
Leben und Musik. Sie haben nicht auf einen Wink von oben gewartet, sondern
machten sich von sich aus auf den Weg. Klänge des Lebens gehen von diesem Ort
aus und nicht das dumpfe Gebrüll der Nazibarden. Schülerinnen und Schüler haben
es satt, das in ihrer Stadt die Rechten die Bevölkerung terrorisieren. In einer
öffentlichen Veranstaltung geben sie die Schutzpatrone des rechten Extremismus,
zwei Landtagsabgeordnete der DVU, dem Gelächter der versammelten Schülerschaft
preis. Überall bilden sich in den Kleinstädten des Landes Bündnisse für eine
weltoffene Gesellschaft. Lehrerinnen und Lehrer lassen sich über die rechte
Jugendkultur aufklären. Jugendliche reisen durch die Schulen, um mit
ungewöhnlichen Methoden, mit viel Musik und Spaß für eine offene Gesellschaft zu
werben. Ausstellungen über Kinderkonzentrationslager und über das Schicksal von
Anne Frank werden in der Provinz eröffnet und erhalten die Erinnerung an die
finstere Zeit in Deutschland wach. Schul- und Kindergartenprojekte werden von
Zugewanderten und Asylbewerbern gestaltet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
unserer Büros knüpfen engagiert und behutsam zugleich an diesem entstehenden
Netz, das die vielen Initiativen einer lebendigen Gesellschaft verbindet.
So werden die
Erinnerungen an die Vergangenheit wach gehalten und die Gefahren für die Zukunft
erkannt und benannt. Zwei Initiativen sollen hier für diese doppelte Bemühung
vorgestellt werden. Unter dem Eindruck der Verzögerungstaktik der deutschen
Wirtschaft hat eine kleine Gruppe von Menschen am 14. März 2001 sich
mit dem Ziel zusammengefunden, in Eigeninitiative ehemaligen Zwangsarbeitern in
Osteuropa konkret zu unterstützen, so lange sie noch am Leben sind. Der
Initiator ist ein Pfarrer im Ruhestand und hat seine Kindheit in Lodz während
des Krieges verbracht. Er ist täglich mit der Straßenbahn durch das Judenghetto
gefahren. Geprägt von dieser Erinnerung und getrieben vom Zorn über das lange
Zögern der Wirtschaft hat er sich zum Handeln entschlossen. Als sie sich
schließlich bereit fand, doch in die Stiftung für die Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter einzuzahlen, wurde sehr schnell klar, dass viele der Betroffenen
durch das bürokratische Netz fallen würden, weil sie den schlüssigen Nachweis
ihrer Zwangsarbeit nicht beibringen konnten. Durch seine konkreten Beziehungen
in die Stadt Lodz gelang es, 17 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeitern einen Betrag von je 1000 DM zu überreichen. Innerhalb von
wenigen Monaten hatte die Initiative das Geld gesammelt. Die polnische Botschaft
schreibt am 06.09.2001: "Ihre Initiative stößt auf einen wichtigen, moralischen
Bedarf an Hilfe für diejenigen Opfer, die wegen der strengen Voraussetzungen bei
der Entschädigungserteilung enttäuscht sein könnten. Sie haben ein Zeichen des
guten Willens gesetzt, was für die Personen, aber auch für die polnische
Gesellschaft sehr wichtig ist. Das Gedenken an die Opfer dank Ihrer Initiative
wird sich nicht nur in statistischen Daten widerspiegeln, sondern hat einen
zwischenmenschlichen Aspekt."
Solche
Menschen verhindern, dass Gras über die finstere Vergangenheit Deutschlands
wächst und eine Mauer des Schweigens die Erinnerung an die Verbrechen
verhindert, die im Namen des deutschen Volkes geschahen. Auch der beschämende
Teil unserer Geschichte ist ein Teil unserer gemeinsamen Vergangenheit. Wer das
Unheil von einst genau betrachtet, wird heute um so schärfer hinsehen, wenn sich
wieder Spuren in der Gesellschaft zeigen, die damals Deutschland in den Wahn
trieben. "Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelt dazumal auf der Höhe
wüster Triumphe... Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die
Hand und mit andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung.
Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter
Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der
Hoffnungen tagen?".
(Thomas Mann: Dr. Faustus; S.690; Aufbau-Verlag 1975)
Ich hoffe, dass nie wieder die Klage von Serenus Zeitblom aus diesem Roman in
Deutschland angestimmt werden muss.
Als in Folge
der Terroranschläge vom 11.09.2001 sich der deutsche Bundesinnenminister Otto
Schily entschloss, Sicherheitspakete durch das Parlament zu bringen, bildete
sich in Sachsen-Anhalt eine kleine Bürgerinitiative. Ihr Motto: Wir lassen uns
nicht erfassen – Initiative für Demokratie und die Rechte der Bürgerinnen und
Bürger. Die Verfasser ihres Aufrufs sind der Meinung, dass der so genannte
Otto-Katalog die falsche Stoßrichtung habe. Er sei nicht geeignet,
terroristischen und antidemokratischen Bedrohungen zu begegnen. Dazu sei er viel
zu sehr verfangen in alten obrigkeitsstaatlichen und geheimdienstlichen
Denkmustern, von denen sie glaubten, die Bürgerbewegung in Ost und West hätten
sie 1968 und 1989 in den Keller der Geschichte gesperrt. Welche Gefahren drohen,
wenn die Machtbefugnisse der Sicherheitsorgane erweitert und die demokratische
Kontrolle abgebaut werde, habe die deutsche Geschichte mehrfach gezeigt. Nicht
die Stärkung, sondern die Untergrabung der demokratischen Grundlagen wäre in der
Regel die Folge gewesen. Demokratie heiße, dass die Balance gewahrt bleibe
zwischen Ermittlungsinteressen, Bürgerrechten und demokratischer Kontrolle.
Das wird
sicher keine Massenbewegung. Etwa 100 Bürgerinnen und Bürger haben bisher
unterzeichnet. Aber hier warnt der Bürgersinn vor dem fürsorglichen Staat, der
sehr schnell zum vormundschaftlichen Staat mutieren kann.
Der Osten ist
also keine zivilgesellschaftliche Wüste. Aber wir sind noch nicht über den Berg,
denn der Untertanengeist wirkt nach. Jedoch sind die Spuren einer wachsenden
Zivilgesellschaft unübersehbar.
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