Politische Bildung im Landtag von Sachsen-Anhalt1. Wurzeln
Nach der Auflösung Preußens am Ende des Zweiten Weltkrieges entstand das Land
Sachsen-Anhalt, ein Kunstgebilde, wie eine Reihe anderer Länder in der deutschen
Nachkriegsgeschichte. Bei den Wahlen 1946 konnte man in der damaligen sowjetischen
Besatzungszone noch auf eine demokratische Entwicklung hoffen. Neben der bereits aus
Kommunisten und Sozialdemokraten zusammengeschlossenen Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands bestanden zwei bürgerliche Parteien, die unabhängig zur Wahl antraten.
Die CDU und die LDPD hatten im Landtag die Mehrheit. Das Land bekam einen liberalen
Ministerpräsidenten. Das zarte demokratische Pflänzchen blieb nicht lange am Leben.
Die SED riss die Macht an sich. So kam die Demokratie auf den vormundschaftlichen Staat.
Mündige Bürgerinnen und Bürger waren unerwünscht. Politische Bildung,
die den Einzelnen zur differenzierten Betrachtung der Gesellschaft und der demokratischen
Parteien befähigte und eigenständiges Handeln förderte, galt als Erfindung
des westlichen Klassenfeindes. An Stelle von Bildung trat Indoktrination. 2. Erfahrungen im PetitionsausschussIch war von 1990 bis 1998 Vorsitzender des Petitionsausschusses im Landtag von Sachsen-Anhalt. Da wurde mir in besonderer Weise klar, welche Schwierigkeiten die Menschen im Osten mit dem demokratischen Rechtsstaat haben. Jeder hier erinnert sich an das Eingabewesen zu DDR-Zeiten. "Dann schreibe ich eben an Erich!", hieß es, wenn jemand etwas erreichen wollte, was bisher unmöglich war. Gemeint war Honecker und das Gesellschaftsspiel fand vor allem im Vorfeld von Wahlen statt. Natürlich konnte man nicht zwischen Alternativen wählen, aber der Staat legte Wert darauf, dass alle Bürgerinnen und Bürger an der Urne erschienen und ihre Treue zu Partei und Staat bekundeten. Funktionäre vor Ort wurden jedoch ganz nervös, wenn jemand drohte, nicht zur Wahl zu gehen, weil er dieses oder jenes nicht bekommen hätte. So machten die Menschen manchmal, nicht immer, die Erfahrung, dass die Mächtigen ihren Wunsch erfüllten, auch wenn er dem geschriebenen Recht nicht entsprach. Der Feudalherr entschied zugunsten des Untertanen, wenn ihm danach war. Mit so einer geprägten Erwartungshaltung traten die Petenten nach 1990 auch an den Ausschuss heran. Sie meinten, es hinge vom guten Willen ab, ob ihr Anliegen positiv beschieden würde. Sie sahen nicht ein, dass verbindliche Rechtsnormen, auf die man sich verlassen kann, zur Grundausstattung des demokratischen Staates gehören. Selbst Bärbel Bohley hatte abschätzig erklärt, wir hätten Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen. Dabei weiß die christliche Tradition davon zu reden, dass die absolute Gerechtigkeit allein von Gott hergestellt wird. Alles was Menschen tun, ist dagegen vorläufig. Auch Gesetze haben ihre Tücken. Trotzdem kann man die demokratisch zustande gekommenen Gesetze nicht diffamieren. Ich will ein Beispiel nennen. Die Vertriebenen hatten in der DDR keinen Lastenausgleich erhalten. Sie sollten nach 1990 einige tausend DM bekommen. Der Anspruch musste bis zu einem bestimmten Stichtag angemeldet sein. Wer das nicht tat, verlor seinen Anspruch. Als wir die Petition der Säumigen nicht positiv bescheiden konnten, haben wir viel Unverständnis geerntet und sind beschimpft worden. Manchmal bekamen wir dann zu hören: "Bei Erich war das besser!" Im Gespräch mit dem Petenten begann ein mühseliger Prozess politischer Bildung. Ohne Institution versuchten wir, das Funktionieren der Demokratie im Alltag zu vermitteln. 3. Neue und alte Traditionsbestände
Im Jahre 1991 hatte die Landesregierung die Landeszentrale für politische Bildung
eingerichtet. Die CDU, SPD und FDP haben damals die Referentenstellen unter sich aufgeteilt.
Dennoch wurde ich als Vertreter einer kleinen Partei gefragt, ob ich auch einen
Personalvorschlag hätte. Als ich eine feministisch geprägte Frau vorschlug,
waren alle Messen gesungen. Die Ansiedlung einer solchen Einrichtung in der Staatskanzlei
verstärkt die Versuchung der Regierung als vorgesetzte Dienstbehörde, sie zum
willenlosen Anhängsel zu degradieren. Vielleicht sollten die Zentralen für
politische Bildung in Stiftungen verwandelt werden, bei der ein Stiftungsrat die
Unabhängigkeit garantiert. 4. Erwachsenenbildungsgesetz und KonsensbedürfnisAber normalerweise gibt es nicht nur einen Weg für Lösungen von politischen und gesellschaftlichen Problemen. Von Königswegen träumen nur Ideologen. Die parlamentarische Demokratie lebt davon, dass die Lösungsangebote strittig sind und der Streit auch öffentlich ausgetragen wird. Damit hatten die Abgeordneten im Landtag ihre Schwierigkeiten. Am 6. Februar 1992 wurde das Gesetz zur Förderung der Erwachsenenbildung im Land Sachsen-Anhalt verabschiedet. Es bildet die Grundlage der Weiterbildung und umfasst sämtliche Bildungsinhalte von der allgemeinen und politischen bis zur kulturellen und wissenschaftlichen Weiterbildung. Die Erwachsenenbildung wurde als eigenständiger, gleichberechtigter Teil des gesamten Bildungswesens beschrieben. Die Förderungsmöglichkeiten wurden festgelegt und die Bildung eines Landesausschusses für Erwachsenenbildung beschlossen. Dazu fand am 9. Oktober 1991 eine Anhörung im zuständigen Ausschuss statt. Vertreter von Einrichtungen und Institutionen der Erwachsenenbildung nahmen die Gelegenheit wahr, sich zu den eingebrachten Gesetzesentwürfen zu äußern. Ihre Wünsche wurden teilweise eingearbeitet. Als es zur abschließenden Aussprache kam, entbrannte zwischen den Regierungsparteien und der Opposition ein heftiger Streit. Das störte das Konsensbedürfnis des damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU. Er führte aus: "Es war die erklärte Absicht der CDU-Fraktion, das Erwachsenenbildungsgesetz so zu bearbeiten, dass es hier im Plenum eine breite Mehrheit - breiter als die Regierungsfraktionen - finden kann. Wir glaubten dafür auch gute Voraussetzungen zu haben; denn anders als im Bereich der Schule war hier gar nicht erkennbar, dass grundsätzliche Unterschiede in den politischen Intentionen bestanden ... Um so verwunderter bin ich über diesen Schaukampf. Ich will bloß darauf aufmerksam machen: Wenn wir jetzt nach dieser doch extrem kontroversen Darstellung in einer Sache, in der eigentlich schon einmal Einigkeit bestanden hatte, zu einem Grabenkrieg kommen, könnte dies zur Folge haben, dass wir uns in Zukunft bei einem Rollenverständnis finden, das sicher in altbundesdeutschen Landtagen üblich ist, wo nämlich von vornherein klar ist, dass Opposition und Regierungsfraktion in der Regel verschiedener Meinung sein müssen. Die wäre aber in unserer Situation des Neuaufbaus eines demokratischen Gemeinwesens aus meiner Sicht unangemessen." (aus: Protokoll der 28. Tagung des Landtages Sachsen-Anhalt, 6.02.1992) Ausgerechnet bei einem Gesetz, in dem es auch um die politische Bildung ging, brach die Konsensideologie wieder durch. Die Diffamierung des politischen Streites als Schaukampf war dafür bezeichnend. 5. Der Streit um die ArbeitnehmerbildungDie Demokratisierung der Gesellschaft voranzutreiben, war ursprünglich die erklärte Absicht aller Akteure im Landtag. Aber bald wurden Hindernisse durch Gesetzesverfahren aufgerichtet, die die Beteiligungschancen und -rechte der Bürgerinnen und Bürger verschlechterten. Bei der Verabschiedung des Erwachsenenbildungsgesetzes bestand im Parlament noch Einvernehmen, dass in absehbarer Zeit ein Gesetz erlassen werden sollte, durch das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern grundsätzlich eine Freistellung zu den Bildungsangeboten garantiert werden sollte. Damals regierte eine Mehrheit aus CDU und FDP. Sechs Jahre später hat sich das Bild geändert. Unterdessen war eine Minderheitsregierung aus SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN gebildet worden. Die katastrophale Arbeitslosigkeit im Osten verstärkte die Macht der Arbeitgeber. Der Versuchung, die Lohnabhängigen auszubeuten, wurde kaum widerstanden. Niedrige Löhne, zahlreiche Überstunden, Drohung mit dem Rausschmiss - das war der jetzige Arbeitsalltag. Diese Machtstellung der Wirtschaft schlug sich bei der Debatte um das Arbeitsfreistellungsgesetz nieder. Jetzt fragte die CDU plötzlich durch ihren wirtschaftspolitischen Sprecher: "Was trägt dieses Gesetz dazu bei, bestehende Arbeitsplätze sicherer zu machen, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und neue Arbeitsplätze zu schaffen?" Er zitierte das Gesetz: "Anerkennungsfähig sind Bildungsveranstaltungen, die sich thematisch mit den gegenwärtigen und zukunftsbezogenen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitswelt und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen befassen." Zusammenfassend erklärte er: "Dieses Gesetz kommt zur Unzeit, ist eine Belastung für die bestehenden Arbeitsplätze und für die Unternehmen, und es ist absoluter Unsinn, so etwas zu dieser Zeit zu verabschieden." (aus: Protokoll der Tagung des Landtages von Sachsen-Anhalt am 3.09.1997). Die Mehrheit des Parlaments bestand auf dieses Gesetz. Aber der Wirtschaftsminister der SPD stimmte der Opposition zu und der Ministerpräsident soll das Gesetz seiner Fraktion vor Arbeitgebern als nicht so glücklich und unnötig bezeichnet haben. Ein CDU-Abgeordneter nannte das Gesetz ein "gewerkschaftliches Gesetz". Der Streit zeigte, wie das Bildungsangebot für die Beschäftigten und die Interessen der Arbeitgeber aufeinanderstoßen. Und wenn im Jahre 2002 der Ruf nach Wirtschaftskunde in den Schulen auf Kosten der Sozialkunde laut wird, zeichnet sich eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas ab, die an Dramatik dem Herbst 1989 nicht nachsteht. Aus dem Traum einer demokratischen Gesellschaft, in der die Schwachen durch staatliche Maßnahmen gefördert und geschützt werden, wird die Realität eines von Profitinteressen der Wirtschaft gesteuerten Gemeinwesens sichtbar. Ich denke, die Landtagsabgeordneten trugen dazu bei, dass politische Bildung leicht zum Lernstoff über Institutionen verkommt und nicht zur Aufklärung und Verwandlung gesellschaftlicher Verhältnisse beiträgt. 6. Die LandesverfassungIn der ersten Wahlperiode wurde auch die Verfassung verabschiedet. Sie ist die Stiftungsurkunde eines demokratischen Gemeinwesens. Die Veränderung des Grundgesetzes war nicht gelungen. Dadurch dass die DDR zum Beitrittsgebiet wurde und nach Artikel 23 des Grundgesetzes der westlichen Bundesrepublik beitrat, entfiel die zwingende Notwendigkeit einer neuen Verfassung auf Bundesebene, die für den Fall der Wiedervereinigung vorgesehen war. Die Landesverfassungen in Ostdeutschland haben dann eine Reihe von Staatszielen und plebiszitären Elementen aufgenommen, die den veränderten Einsichten und Problemen der 90er Jahre entsprachen. Die Fraktion von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN hat der Verfassung von Sachsen-Anhalt trotzdem nicht zugestimmt, weil wir an bestimmten Punkten Ausrufungszeichen setzen wollten. Erstens ging es um den Streit der sozialen Menschenrechte - etwa das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnen oder das Recht auf eine unversehrte Umwelt - , die bei den Staatszielen und nicht bei den Grundrechten standen. Wenn die Welt gerechter werden sollte, müssten die sozialen und die Freiheitsrechte gleichrangig und einklagbar sein. Noch war das ein Traum und zehn Jahre später sind wir weiter denn je von seiner Erfüllung entfernt. Zweitens wollten wir die männliche und weibliche Sprachform in der Verfassung haben. Emanzipation der Frauen sollte durch die Sprache zur selbstverständlichen Alltagswirklichkeit werden. Drittens erschienen uns die Quoren für die plebiszitären Elemente zu hoch. Demokratie kann nicht aus Wahlbeteiligung allein bestehen. Viertens hätten wir die Verfassung gern durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen. Unsere kleine Fraktion hat an diesem Punkt wie auch an anderen für Möglichkeiten gestritten, Strukturen bereitzustellen, damit aus Landeskindern mündige Bürgerinnen und Bürger werden. Politische Bildung kann nicht nur für Aufklärung streiten, sie muss auch um gesellschaftliche und gesetzliche Rahmenbedingungen kämpfen, dass die Schwelle für die eigene Beteiligung nicht durch bürokratische Hemmnisse unnötig hoch gehalten wird. 7. Regierungswechsel, Parlamentarier - und politische Bildung
In der Umbruchszeit 1989/90 saß das ostdeutsche Volk hinter den Fernsehern und
folgte fasziniert den öffentlichen Sitzungen des zentralen Runden Tisches und
später denen der Volkskammer. So ein hohes Maß an Politisierung der Bevölkerung
ist sicher eine Ausnahme. Unterdessen hatte sich die Euphorie verloren. Das Erscheinungsbild
des ersten Landtages von Sachsen-Anhalt bestätigte die alten Vorurteile gegen den
Parlamentarismus. Drei Regierungschefs in einer Wahlperiode, Abgeordnete, die ihre Fraktionen
verließen und eigene Fraktionen bildeten, Skandale wie die Gehälteraffäre der
Westminister, Intrigen mit windigen Geheimdienstlern, öffentlich weinende Abgeordnete
und Erpressungsversuche durch Parteivorsitzende - so ging es damals zu. Den Medien bot das
Land aufregende Vorstellungen, bis schließlich nach der Wahl des letzten
Ministerpräsidenten in dieser Wahlperiode im Landtag das Licht ausging. Ein
bemerkenswertes Symbol für die unglaublichen Zustände dieser Zeit. |