Frankfurter Rundschau, 11.08.2004
"Der Zorn hat sich über 14 Jahre angestaut"
Der DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche über Montagsdemonstrationen in
Ostdeutschland - 1989 und heute
Frankfurter Rundschau: Herr Tschiche, Sie waren einer der
Vorkämpfer der DDR-Bürgerbewegung. Am Montag sind Sie gegen Hartz IV
auf die Straße gegangen. Fühlen Sie sich als Mitglied einer neuen
Bürgerbewegung im Osten?
Hans-Jochen Tschiche: Am
Montag waren die ganz normalen Ostdeutschen auf der Straße. Und die
Parolen waren etwas hilflos. Das hat mich unglaublich an 89 erinnert.
Wir haben damals um die Freiheitsrechte gestritten. Jetzt streiten die
Leute um die Bewahrung der Menschenrechte, was die Sozialrechte
anbelangt. Vor allem in den kleinen Orten hier ist das wie ein
Flächenbrand.
Ist Hartz IV genauso so existenziell
wie der Kampf um Freiheitsrechte ?
Die
Leute haben das Gefühl, dass die soziale Gerechtigkeit ins
Ungleichgewicht geraten ist. Dabei ist Hartz IV eher Anlass als Ursache.
Was bringt gerade die Menschen im Osten so sehr gegen Hartz IV auf ?
Die
Leute haben sich 1990 voller Vertrauen Richtung Westen orientiert. Dann
gab es die tiefe Enttäuschung. Die Mehrzahl musste die Erfahrung
machen, dass Teile ihrer Biografie für westliche Augen suspekt waren.
Dann kam der Arbeitsmarkt nicht in Gang und jetzt haben sie das tiefe
Gefühl: Wir sind draußen. Diese Erfahrung der permanenten Demütigung
hat über 14 Jahre den Zorn angestaut, der sich nun aus dem relativ
geringen Anlass Hartz IV entlädt. Jetzt bricht der Volkszorn los, der
sich damals, als die De-Industrialisierung der DDR stattfand und viele,
viele Arbeitsplätze wegbrachen, nicht artikulierte.
Lautet die Hauptbotschaft nicht: Die da oben müssen weg ?
Nein. Die Botschaft ist eher: Mit uns kann man nicht machen, was man
will. Wir wollen nicht hilflos wirtschaftlichen Zwängen ausgeliefert
sein, sondern wir erwarten Unterstützung auch von politischer Seite.
Sind
die Proteste im Osten nicht Ausdruck einer Versorgungs- und
Absicherungsmentalität, die in der DDR besonders verbreitet war ?
Das
kann schon sein. Natürlich gibt es die stark autoritäre Prägung, alles
von oben, das heißt vom Staat, zu erwarten. Darüber streite ich auch
hier mit meinen Leuten. Ich selber habe eher das Gefühl, dass unter dem
Stichwort Globalisierung der Sozialstaat immer mehr in Gefahr gerät,
demontiert zu werden.
Warum protestieren dann die Leute im
Westen nicht genauso ?
Weil
der Westen diese Art der De-Industrialisierung nicht erlebt hat, auch
wenn man jetzt auch dort sieht, dass die klassische
Industriegesellschaft ins Schleudern gerät. Die Erfahrung der wirklich
existenziellen Verunsicherung ist im Osten viel früher angekommen. Die
Leute haben das über zehn Jahre erduldet. Und mit einem Mal ist Hartz
IV jetzt wie der berühmte Schmetterling, der ein Erdbeben auslöst. Es
geht um das weit verbreitete Gefühl: Wir haben keine Perspektive - und
dieses Gefühl greift ja auch langsam in den Westen über.
Heißt nicht eine Botschaft der Proteste: Was aus dem Westen kommt,
muss weg ?
Es
gibt sicher starke Vorbehalte gegenüber dem Westen. Sobald etwas
Kritisches gegen Ostdeutschland gesagt wird, sitzt die halbe ehemalige
DDR beleidigt auf der Bank. Aber dieses Mal scheint es mir kein
Aufstand gegen den Westen zu sein. Man versucht, Kontakt zu halten zu
Protest-Initiativen im Westen. Da gibt es Solidarisierung.
Wie tragfähig ist der Protest ?
Ich
vermute, die Proteste werden in ein paar Monaten nachlassen. Wenn die
Leute das Gefühl haben, die Politik reagiert, und wenn man versucht,
ihnen Verständnis entgegen zu bringen, dann könnte sich das Klima
ändern. Wenn die Leute aber nur beschimpft werden, werden sich die
Fronten verhärten.
Wenn es nicht allein um Hartz geht,
sondern um Wut von Jahren, hat die Politik dann überhaupt eine
Chance zu reagieren ?
Die
Politik müsste zunächst versuchen, einige Dinge bei Hartz IV zu
entschärfen. Aber das allein wird kaum reichen. Die Politik müsste vor
allem die Proteste ernst nehmen und mit den Leuten ins Gespräch kommen.
Sie muss sich stellen.
Hilft eine Informationskampagne, wie die Regierung sie jetzt im Osten
plant ?
Die
Leute sind ja nicht so blöd, wie die Regierung annimmt. Es ist nicht
nur eine Sache des Nicht-Wissens. Es ist die Demonstration von
Vertrauensverlust gegenüber der Politik.
Interview: Vera Gaserow
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