Miteinander e.V., Newsletter Nr. 12 - Frühjahr 2005

Unter die Zeit des NS kann in Deutschland nie ein Schlussstrich gezogen werden.

Miteinander: Sie waren bei Kriegsende 15 Jahre alt. Wo und wie erlebten Sie und Ihre Familie diese Zeit?

Hans-Jochen Tschiche: Meine Familie zog 1937 nach Magdeburg. Mein Vater wurde 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Er war an keiner Front und hat nie einen Schuss abgegeben. 1945 geriet er in Italien in amerikanische Gefangenschaft und war noch vor Weihnachten bei seiner Familie. Im Januar 1944 erfolgte ein größerer Luftangriff auf Magdeburg. Wir wurden nicht ausgebombt, aber meine Mutter zog mit meinem Bruder, der 1941 geboren wurde, aufs Land nach Zeddenick bei Möckern zu einer Tante. Nach der Zerstörung Magdeburgs am 16. Januar 1945 verließ auch ich Magdeburg, obwohl unsere Wohnung auch diesmal keinen Bombenschaden erlitten hatte. Schulunterricht gab es für mich von da ab nicht mehr. Meine Mutter und ich halfen bei einem Bauern. Noch Anfang April wurde ich konfirmiert. Ende April standen die Amerikaner an der Elbe. Etwa 10 Tage blieb unser Ort noch unbesetzt. Am 4. Mai hörten wir die Russen auf der 1 km entfernten Landstraße vorbeiziehen. Am nächsten Morgen waren sie da, holten die Pferde aus den Ställen, plünderten die Wohnungen und vergewaltigten die Frauen, wenn sie ihrer habhaft werden konnten.

Miteinander: Im Zuge des 60. Jahrestages der Bombardierung Magdeburgs durch die Aliierten gab es in den vergangenen Wochen noch einmal eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit zu den Ereignissen vom 16. Januar 1945. In Kürze jährt sich der Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Wie empfanden Sie und ihre Familienangehörigen die Begebenheiten der letzten Kriegsmonate?

Hans-Jochen Tschiche: Ich bin in einer unpolitischen Kleinbürgerfamilie aufgewachsen. Meine Kindheit verlief auch im Kriege behütet und glücklich. Ich hörte zwar, dass der Vater eines Spielkameraden im KZ sein sollte und ich sah einmal in der Straßenbahn ein Kind mit einem Judenstern, aber über die Zusammenhänge habe ich im Elternhaus nichts erfahren. Der Dienst im Jungvolk und später in der Hitlerjugend war mir lästig, weil ich mich lieber allein meinen Träumen und Spielen hingab. Das Gebrüll der Vorgesetzten und die Kommandiererei fand ich immer ein wenig komisch, aber nicht aus bewusster politischer Ablehnung, sondern ich hab mich schon immer von niemanden gern herumkommandieren lassen. Das Grauen am Kriegsende, das viele Deutsche erfahren haben, hat unsere Familie nicht erreicht. Wir waren froh, dass alles vorbei war und wollten dort wieder weitermachen, wo wir 1937 aufgehört hatten. Damals hatten wir unsere Landbäckerei in der Dübener Heide verpachtet. 1946 zogen wir wieder dorthin.

Miteinander: Bereits seit einigen Jahren - und vermehrt in der aktuellen Debatte zum 60. Jahrestag - rücken die deutschen Opfer der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg verstärkt ins Znetrum der Erinnerung. Für die von den Nazis Verfolgten und Ermorderten bleibt kaum noch Raum. Wie erklären Sie sich die Verschiebung hin zur Betonung des Leids eines Großteils der deutschen Bevölkerung?

Hans-Jochen Tschiche: In der frühen Nachkriegszeit las ich „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon und „Stalingrad“ von Theodor Plevier. Durch diese beiden Bücher erreichten die grauenvollen Untaten, die Deutsche angerichtet hatten,. mein Bewusstsein. In den 12 Hitlerjahren hatten diese Vorgänge mich nicht geprägt, aber jetzt begriff ich schlagartig, was passiert war. Für mich war damals und auch heute die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Zerbombung der deutschen Städte eine Folge der schuldhaften Verflechtung unseres ganzen Volkes. Den Opfern des Nationalsozialismus galt die ganze öffentliche Aufmerksamkeit. Aber irgendwann musste sich auch die Trauer über die fürchterlichen Schicksale der deutschen Zivilbevölkerung Raum verschaffen. Dabei geht es nicht um Gegenrechnung, sondern um die tiefe Erschütterung über das Leid, das moderne Kriege über Schuldige und Unschuldige bringen können. Jeder Kriegstote ist ein Toter zu viel und niemand hat ein Recht, Menschen wie Wanzen zu vertilgen.

Miteinander: Das Selbstverständnis der DDR war vom „antifaschistischen Kampf“ geprägt. Wie fand aus Ihrer Perspektive Gedenken und Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in der DDR statt? Wurden Vertreibung und Bombardierung deutscher Städte thematisiert und wenn ja, wie? Finden sich aus dieser Zeit noch Versatzstücke in der heutigen Debatte?

Hans-Jochen Tschiche: Die öffentliche DDR-Politik ließ diese Trauer nicht zu. Die Machthaber verschanzten sich hinter ihrer ideologischen Selbstgerechtigkeit. Wenn man ihnen zuhörte, konnte man das Gefühl bekommen, dass die Bösen immer auf der anderen Seite seien und die Guten bei ihnen. Dem kommunistischen Widerstand wurde allzeit gedacht, das Schicksal der Juden, Sinti und Roma, der Widerstand vom 20. Juli 1944 und das bürgerliche Lager verschwand hinter der ostdeutschen Deutung. Die Bombardierung wurde nur genannt, um die westlichen Alliierten zu diffamieren. Die Vertreibung der Deutschen wurde öffentlich überhaupt nicht thematisiert. Die Betroffenen waren im Sprachgebrauch der DDR Umsiedler und sollten eine gewaltlose Aktion assoziieren., wobei die selbstgerechten westdeutschen Vertriebenenverbände mich genauso unangenehm berührten. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen war mir in der DDR zu engführend und in der Bundesrepublik Deutschland zu lässig. In Deutschland Ost gab es zur Selbstbeweihräucherung keinen Grund und in Deutschland West blieb die Verharmlosung lange an der Tagesordnung.

Miteinander: Die Zeit des Nationalsozialismus - und damit auch seine Verbrechen - rücken in immer weitere Ferne, Zeitzeugen sterben aus. Zusätzlich gibt es vermehrt Stimmen, die sich für einen Schlussstrich unter dieses Kapitel der deutschen Geschichte stark machen. Wie kann Ihrer Meinung nach in Zukunuft die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus aussehen?

Hans-Jochen Tschiche: Unter die Zeit des Nationalsozialismus kann in Deutschland nie ein Schlussstrich gezogen werden. Über die Irrwege von Menschen und Politik in diesem Lande können wir nicht schweigen. Sie gehören zu unserer Geschichte und zeigen die chaotischen Abgründe, die in jedem von uns schlummern. Die Zivilisationsschicht, die jene Abgründe domestiziert, ist dünn und wir müssen sie hegen und pflegen, heute und auch in Zukunft. Wir sollten die nachwachsende Generation nicht mit der moralischen Keule bearbeiten, sondern ihnen die Fakten jener Zeit vermitteln und ihnen helfen, sich ein eigenes Urteil zu verschaffen. Wir sollten mit ihnen klären, dass der Rausch der Unmenschlichkeit nicht das Merkmal von einzelnen Bösewichtern ist, sondern auch in unseren Herzen schlummern kann. Sündenböcke sind nicht der Ausweg aus unmenschlichen Verirrungen. Erinnerung und Aufklärung bleiben auch heute als öffentlicher Bildungsauftrag.