Neues Deutschland, 8./9.01.2000

Linke in Deutschland: Hans-Jochen Tschiche, Bürgerrechtler und Grünen-Politiker

»Wir müssen unterwegs bleiben«

Herr Tschiche, vor zehn Jahren, Anfang 1990, bereiteten sich alte und neue Parteien in der DDR auf die erste freie Volkskammerwahl vor. Die Rede war von einer erneuerten DDR. Ein paar Jahre später schrieben Sie, die DDR-Bürgerrechtler seien nur die Türöffner für ganz andere Entwicklungen gewesen. Sehen Sie die Wende heute pessimistisch?

Nein. Ich neige nicht dazu, mit Bitterkeit zurückzuschauen. Ich liebe Neuanfänge. Das ist keine rhetorische Floskel. Wir waren 1989 tatsächlich Türöffner, weil die Opposition in der DDR eine absolute Minderheit war und auch geblieben ist. Die Mehrheit meiner Landsleute, der DDR-Bürger, hat andere politische Entscheidungen getroffen, als wir vermuteten.

DDR-Bürgerrechtler, auch solche, die aus der Kirche kamen, haben sich nach der Wende politisch sehr unterschiedlich orientiert. Sie sind auf der linken Flanke geblieben. Warum?

Ich war immer ein alter linker Knochen. Ich gehörte doch vor zehn Jahren zu denen, die die DDR nicht abschaffen, sondern reformieren wollten.

Das haben alle gesagt.

Sicher, aber ich habe es auch so gemeint. Ich habe das Ende des Zweiten Weltkriegs mit Bewusstsein erlebt und wollte nie im Westen ankommen. Am Anfang dachte ich auch, der Osten sei der bessere Teil Deutschlands. Meine innere Überzeugung war, dass man mit dem Nationalismus und dem Junkertum brechen musste. In der Auseinandersetzung mit dem DDR-Staat war ich kein Antisozialist, sondern ich habe die undemokratische Verwaltung der Macht kritisiert. Dass das eine besondere Frechheit war - denn die Machtfrage galt ja als entschieden -, wurde mir zuerst gar nicht so klar. Ich hätte diese DDR gern reformiert, in Richtung demokratischer Sozialismus. Aber als es richtig losgehen sollte, war die DDR weg, weil das Volk sie nicht mehr wollte. Vielleicht haben wir in der Kirche in gewisser Weise isoliert gelebt und wussten nicht genau, was die Leute denken.
Ich meine; dass der Kampf um die sozialen Menschenrechte noch nicht ausgefochten ist. Manchmal habe ich den Eindruck, ein Teil meiner ehemaligen Kollegen sagt, die jetzige Gesellschaftsform ist die einzig mögliche und praktikable. Das meine ich eben nicht. Insofern bin ich das, was man links nennt - also jemand, der meint, wir dürfen uns nicht einrichten, wir müssen unterwegs bleiben.

Vor gut zwei Jahren haben Sie vorgeschlagen, über eine neue Linkspartei mit besten Teilen von SPD, Grünen und PDS nachzudenken. Das hat Aufsehen erregt.

Wie das so ist, wenn man etwas Ungehöriges äußert. Gut, es war eine Denkübung. Ich hatte gesehen, dass die PDS im Westen Fuß fasst und dass sich enttäuschte Grüne dem Projekt PDS annähern. Dass links neben den beiden Regierungsparteien Platz wird, zeigt sich ja heute deutlicher als damals.

Sehen Sie in absehbarer Zeit die reale Möglichkeit und eine Notwendigkeit für ein übergreifendes linkes Projekt?

Die SPD will die Mitte erobern. Die Grünen wollen die SPD links und rechts gleichzeitig überholen und geraten in die Gefahr, völlig gesichtslos zu werden. Die Idee der solidarischen und gerechten Gesellschaft verliert zunehmend Heimat. Diese Lücke besetzt die PDS.

Tut sie das glaubwürdig?

Ob sie den Glaubwürdigkeitstest bestehen würde, steht in den Sternen. Natürlich gibt es in der PDS Betonköpfe, Unbelehrbare, unausstehliche Besserwisser. Mancher PDS-Landespolitiker macht den Eindruck, als gehe er in die Hölle, wenn er sagt: »Ich muss zur Basis.« Aber die PDS bindet ganz unterschiedliche Kräfte. Wenn es ihr gelingt, sich im Westen zu festigen, wird sie die linke Partei in Deutschland. Und wenn das scheitert, wird sich etwas Anderes bilden. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit wird weiter eine politische Vertretung brauchen.

Sie lieben Neuanfänge. Jetzt, zehn Jahre nach der Wende - glauben Sie, dass es wieder Zeit ist für einen Neuanfang?

Ich selbst hatte einen Neuanfang, nachdem die Grünen 1998 aus dem Landtag von Sachsen-Anhalt rausgeflogen waren. Plötzlich hatte ich Zeit für andere Dinge. Ich halte wieder Vorträge, ich habe mehr Zeit zum Nachdenken, ich muss nicht mehr so viel Rücksicht auf politische Konstellationen nehmen.
Dabei frage ich mich, wohin unsere Gesellschaft gehen soll. Soll sie sich nach dem amerikanischen Modell entwickeln, die so signifikant in Arm und Reich geteilt ist, dass man von unterschiedlichen Gesellschaften in der Gesellschaft sprechen kann? Oder wollen wir die europäische, die westeuropäische Tradition fortsetzen, die ja von den Sozialisten im vorigen Jahrhundert angezettelt worden ist - nämlich das Recht auf soziale Sicherheit, die Befestigung von sozialen Menschenrechten und so weiter?
Darum muss sich die Politik kümmern. Sie darf auf keinen Fall die Magd der Wirtschaft sein. Im Augenblick ist sie leider eher eine Notreparatur-Brigade, die ausbessern muss, was die Wirtschaft angerichtet hat. Nehmen Sie Holzmann: Da habe ich den Eindruck, die Wirtschaft denkt nicht in die Zukunft, und wenn es brenzlig wird, ruft sie nach dem Staat und erpresst ihn womöglich noch mit der Drohung, tausende Menschen zu entlassen.

Verhältnis von Politik und Wirtschaft - wie beurteilen Sie da die rot-grüne Bundesregierung?

Die ist ein Paradebeispiel dafür; wie schwierig das ist. Beispiel Atomenergie. In Deutschland gibt es ja eigentlich eine Mehrheit, die im Prinzip den Ausstieg will. Aber die Atomlobby ist so stark, dass es der Politik unglaublich schwer fällt, sich durchzusetzen. Da muss man Kompromisse machen, und läuft Gefahr, das eigene Gesicht zu verlieren. Ich denke, für den grünen Teil der Bundesregierung muss Feierabend sein, wenn absehbar wird, dass der Atomausstieg auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben wird.

Wenn Ihre These stimmt, kann auch der Bundeskanzler nicht regieren, wie er will. Vor der Bundestagswahl haben Sie von der Gefahr gesprochen, dass Gerhard Schröder zum Kohl-Verschnitt wird. Hat sich das bestätigt?

Ich denke schon. Das Erstaunlichste an Schröder ist für mich, dass ich gar nicht so schnell denken kann, wie er im Zickzack um verschiedene Ecken verschwunden ist. Das ist eine geradezu atemberaubende Prinzipienlosigkeit. Dabei fällt mir allerdings auch ein: An der Prinzipienfestigkeit der DDR-Elite ging der Staat kaputt.

Sie sind Jahrgang 1929, waren bei Kriegsende 15 Jahre alt und wollten dann Lehrer werden.

Ja, ich war Ende der 40-er Jahre bei einer Russischlehrer-Ausbildung in Halle. Weil ich in keiner Organisation war, wurde ich gefragt, ob ich nicht wenigstens in die CDU gehen wolle. Ich wollte nicht. Gleich nach dem Krieg war ich bei der Antifa-Jugend und anfangs auch in der FDJ. Deshalb bin ich in der Klasse beschimpft worden: Tschiche, du roter Hund, wenn es anders kommt, hängen wir dich auf. Kurz vorm Abitur bin ich aus der FDJ ausgetreten, weil ich spürte, wie der ideologische Druck wuchs. Die autoritäre Struktur, das Phrasengetöse, das hat mich geärgert. Damit hatte ich schon als Kind Probleme. Wenn die zwölfjährigen Führer beim Jungvolk vorne standen und brüllten, musste ich immer lachen.

Lehrer wurden Sie dann doch nicht.

Irgendwann wurde einer unserer Dozenten von den Russen festgenommen. Gemeinsam mit einer Kommilitonin besuchte ich die Frau des Lehrers und wurde deshalb einbestellt und befragt. Später habe ich irgendwo gesagt, ich wolle kein Stipendium von einem Staat, den ich vielleicht einmal ablehnen müsste. Das war natürlich das Ende, ich wurde als ungeeignet entlassen. Jahre danach traf ich einen Kommilitonen, der sich darüber wunderte, dass ich nicht längst im Westen war. Ich wollte aber hier bleiben.

Woher kam der Wunsch, dann Theologie zu studieren?

Meine Eltern waren Mitglieder der Kirche, aber nicht religiös. Tbeologie fand ich interessant, vielleicht auch etwas verrückt. Ich holte mir vom Pfarrer eine Bibel und fing an, darin zu lesen. Ich bin kein klassisch frommer Christ. Aber was mich an Teilen der christlichen Tradition fasziniert, ist der radikale Einsatz für die Unterdrückten und zu kurz Gekommenen. Es gab damals eine theologische Schule, die mir sehr nahe steht. Die sagte: Wiederhole die Texte der Bibel nicht einfach nur, sondern überlege, welche Antworten die Religion auf bestimmte Situationen gibt.

Seit 1999 leiten Sie einen Verein »Mi-einander e. V - Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt«. Wie kam es dazu?

Die Sache ist entstanden, weil sich im Osten zunehmend eine rechte Jugendkultur ausbreitet. Es gibt Kulturhäuser, die von den Rechten faktisch in Beschlag genommen worden sind. Rechtes Gedankengut reicht mittlerweile bis weit in die Mitte der Gesellschaft, übrigens auch bei älteren Menschen. Jetzt entstehen in Sachsen-Anhalt drei regionale Zentren, in denen eine vielfältige demokratische Gegenkultur gestärkt werden soll. Das Ganze wurde beschleunigt durch den Einzug der DVU in den Landtag 1998.

Ohne den DVU- Wahlerfolg wäre der Verein vielleicht nicht entstanden?

Zumindest wäre bei der Landesregierung nicht eine derartige Unruhe entstanden. Und vielleicht hätten wir weniger Geld bekommen. Ursprünglich sollten wir im Jahr 2000 zunächst 1,7 Millionen Mark aus dem Landeshaushalt erhalten. Im Haushaltsentwurf standen  dann nur 700.000 Mark. Ob das ein Fehler war oder der Versuch von Beamten, einen ungeliebten Verein einzuschränken, weiß ich nicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis das repariert war. Erst als ich drohte, vom Vereinsvorsitz zurückzutreten, ging es. Ich erzähle das, weil die Verrechtlichung und Bürokratisierung dieses Staates Initiativen unheimlich lähmen. Das macht die Leute gesellschaftsmüde und ist außerdem unglaublich teuer. Ich würde eine Bürgerbewegung zur Entrümpelung der Bürokratie sehr begrüßen.

1,7 Millionen Mark im Jahr - viele Vereine wären über ein Zehntel dessen froh.

Die Sache ist ja wichtig, und sie liegt der Landesregierung am Herzen. Neben etlichen Einzelpersonen gehören dem Verein als juristische Personen inzwischen der DGB  Sachsen-Anhalts,  die  Gewerkschaftsjugend, die SPD, die PDS und zwei Eine-Welt-Häuser an. Der Landesdachverband für Erwachsenenbildung hat sich auch interessiert. Ich will ein breites Bündnis, zu dem auch Konservative, auch Kirchen und Universitäten gehören - diese Gesellschaft soll zeigen, dass sie die Rechten nicht akzeptiert.
Das muss übrigens auch im Landtag passieren. Die Auseinandersetzung mit der DVU-Fraktion ist nicht ausreichend. Ich an Stelle der SPD würde sie jedesmal, wenn sie irgend einen undemokratischen Quatsch erzählen, darauf festnageln. Das überlässt die SPD der PDS. Die SPD hofft, dass man die DVU totschweigen kann. Ich finde die Haltung der PDS richtig, dieser DVU nichts durchgehen zu lassen.

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Glück: Ich bin ein Gewinner der Wende. Ich kann nichts dafür. Da hat die Glücksfee ihren Sack über mir ausgekippt. Als Politiker hatte ich meinen Lebenshöhepunkt. Das ist die persönliche Sicht. Die politische sieht etwas anders aus. Der zunehmende rechte Geist in Deutschland beunruhigt mich natürlich.
 
Deutschland: Das ist schon verrückt - spontan fällt mir dazu Weltoffenheft ein. Verrückt deshalb, weil ich große Schwierigkeiten mit dem Begriff Deutschland hatte. Ich hatte dabei immer die Erinnerungen an den Krieg im Kopf, ich höre das Rauschen der Eichen und das tiefsinnige deutsche Grummeln, und mir fällt die Sonderrolle ein, die dieses politisch nie ganz reif gewordene Deutschland in der Geschichte immer spielen wollte. Mit der Zeit ertappe ich mich aber dabei, dass ich meine Vorurteile gegen mein Land abbaue.
 
Musik: Am liebsten Mozart, schon frühmorgens. Ich bin ja eigentlich unmusikalisch, obwohl ich als Brüllkantor in der Kirche anstimmen musste.
 
Buch: Zuletzt habe ich Erzählungen von, Wassili Schukschin gelesen.
 
Gottesdienst: Vor einiger Zeit war ich zum Gebet im Dom, als in Magdeburg die NPD aufmarschiert ist. Aber zu einem normalen Gottesdienst? Da fällt mir die Amtseinführung eines lieben Freundes im letzten Dezember ein.

 
Interview: Wolfgang Hübner

Dieses Interview eröffnet die Serie „Linke in Deutschland“. Zum Auftakt Hans-Jochen Tschiche. 1948 Abitur in Wittenberg, dann Theologiestudium in Berlin. Nach mehreren Pfarrstellen Studienleiter, 1978 Leiter der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt. Mitbegründer des Neuen Forum, 1990 Abgeordneter in der Volkskammer. 1990 – 1998 Grünen-Fraktionschef im Landtag von Sachsen-Anhalt. 1994 einer der Väter des Magdeburger Modells. 1999 erschien sein Erinnerungsbuch „Nun machen Sie man, Pastorche!“.
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