Volksstimme vom 26.09.01  Sachsen-Anhalt, News:

Die Bündnis-Grünen vor den Landtagswahlen, Tschiche:

"Ich habe das Gefühl, dass unsere Stunde noch mal kommt"

Welchen Stellenwert haben Pazifismus und Bürgerrechte in unsicheren Zeiten? Welche Chance bleibt Sachsen-Anhalts Ökopartei bei den Wahlen im April? Hans-Jochen Tschiche ist Pazifist, Bürgerrechtler und Ehrenvorsitzender der Landes-Grünen.
Mit ihm sprach Redakteur Jens Schmidt.

Volksstimme: Herr Tschiche, die Grünen sind gegen einen militärischen Vergeltungsschlag. Wie soll den bin Laden gefasst werden?

Tschiche: Wie ein Tatverdächtiger in einem Rechtsstaat gefasst wird. Polizeiaktionen unterstützen wir. Im besonderen Fall können auch militärische Sondereinheiten eingesetzt werden, wie damals bei der Befreiung des entführten Flugzeugs 1977 in Mogadischu.

Volksstimme: Kann man weltweit agierenden Terroristen allein mit rechtsstaatlichen Mitteln beikommen?

Tschiche: Etwas anderes akzeptiere ich nicht. Wir sagen: Der Anschlag war ein Anschlag auf eine offene, zivile Gesellschaft. Ein Kennzeichen der offenen Gesellschaft aber ist die Rechtsstaatlichkeit.

Volksstimme: Hätte man den Nationalsozialismus beseitigen können, indem man Hitler gefangen und vor ein Gericht gestellt hätte?

Tschiche: Sicher nicht. Wenn man einen hat, ist das Problem nicht gelöst.
Aber ein Krieg gegen die Taliban könnte die Solidarität aller Muslime und einen Flächenbrand hervorrufen - das ist meine Sorge. Es muss gelingen, die Taliban innerhalb der muslimischen Welt zu isolieren. Wir müssen es zumindest versuchen. Wir müssen behutsam vorgehen.
Wir selber sind ja ein Teil des Problems.

Volksstimme: Wie meinen Sie das?

Tschiche: Unser Reichtum basiert auf einer weltweiten Ungerechtigkeit. Wir können nicht sagen: Wir sind das Reich der Guten - dort ist das Reich der Bösen. Die Globalisierung nach streng kapitalistischem Muster ist verheerend.
Es könnte sein, dass die schrecklichen Anschläge in den USA die Großmächte zum Umdenken bewegen. Jedenfalls ist das meine Hoffnung.
Das Problem ist, dass viele Politiker nach Sozialabbau schreien. Wer mehr Sozialstaat und mehr Gerechtigkeit fordert, dem wird vorgeworfen, er wolle ja nur die soziale Hängematte. Was ich in dem Zusammenhang der kommunistischen Linken vorwerfe: Sie haben die Idee des Sozialstaates auf den realen Sozialismus und damit auf den Hund gebracht. Weltweit.

Volksstimme: 1999 Kosovo-Krieg, 2001 Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr, jetzt Kriegsgefahr im Mittleren Osten. Und die Grünen sitzen in der Bundesregierung. Zerbricht die Partei daran?

Tschiche: Für die Grünen ist das eine sehr hohe Belastung. Aber wir müssen auch die veränderte Lage akzeptieren: Die Atomkriegszeit ist vorbei, es sind wieder regionale Kriege möglich. Mit der deutschen Einheit ist Deutschland zu einem Machtfaktor geworden. Wir haben Bündnisverpflichtungen. Wir müssen uns immer fragen: Welches Unrecht ist höher - Eingreifen oder alles so laufen lassen?

Volksstimme: Wie gehen Sie damit um?

Tschiche: Ich habe mich oft als Atombomben-Pazifisten bezeichnet. Damals zur Zeit des Kalten Krieges war die Sache klar. Beim Kosovo habe ich erst geschwankt, dann aber doch Fischers Linie unterstützt und gesagt: Hier gehen Menschenrechte vor Völkerrecht. Im Nachhinein sehe ich mich in meinen anfänglichen Zweifeln bestärkt.

Volksstimme: Die Grünen sind in Sachsen-Anhalt und im ganzen Osten sehr schwach. Auch im Westen, siehe Hamburg, verlieren sie Wähler.

Tschiche: Das politische Klima ist ungünstig. Ein Teil wählt uns nicht mehr, weil sie sagen: Ihr habt die alten Ziele verraten - wie Pazifismus und schneller Atomausstieg. Ein anderer Teil sagt: Ihr seid immer noch die grünen Spinner.

Volksstimme: Viele meinen: Die Grünen sind eine Westpartei. Die Ostpartei heißt PDS.

Tschiche: Wir sollten unsere Ost-Schwäche nicht auf den Westen schieben. Die Hoffnung von uns allen war: Wir Bündnis-90-Leute aus dem Osten haben viele Menschen hinter uns. Doch die Opposition in der DDR bestand nur aus höchstens 5000 Leuten, und schon bei der Volkskammerwahl 1990 wurde klar: Wir sind eine Minderheit.
Wer die PDS wählt und stark macht, meint: Er kann viel vom Staat erwarten. Wir Grünen hingegen orientieren mehr auf Eigenverantwortung.
Viele Ostler haben aber mehr Erwartungen an den Staat als Zuversicht in die eigene Kraft. Das liegt auch an der Autoritätsgläubigkeit, die hier im Osten ununterbrochen seit dem Kaiserreich geherrscht hat. Die wurde auch nicht in der DDR unterbrochen. Wir hatten einen preußischen Kommunismus.

Volksstimme: Wie stehen die Chancen bei der Landtagswahl?

Tschiche: Ich spüre in unseren Reihen eine ziemliche Resignation. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Wir stehen für Bürgerrechte, haben die höchste ökologische Kompetenz, haben Skrupel bei militärischer Gewalt, wir haben 1989 gewaltlos einen Staat beseitigt. Ich habe das Gefühl, dass unsere Stunde noch mal kommt.

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