Chaostage im Parlament - oder das Ende eines Patriarchen

Turbulenzen kennzeichneten den ersten Landtag in Sachsen-Anhalt nach der Wiedervereinigung 1990. Aus frei flotierenden Abgeordneten bildeten sich neue Fraktionen und zerfielen wieder. Bei manchen stellte sich heraus, dass sie in der falschen Partei gelandet waren. Stasi-Verdächtigungen machten die Runde. Schon im Sommer 1991 musste der erste Ministerpräsident, Dr. Gerd Gies, seinen Hut nehmen. Ihm folgte der barocke Professor Werner Münch aus Vechta, ein Ort, in der die katholische Welt noch heil ist. Bald entnervte er seine eigenen Leute. Von seinem arroganten und autoritärem Gehabe könnte man viele Geschichten erzählen. Vor allem hatte er sich den Chef des Landesrechnungshofes, Horst Schröder, zum Feind gemacht. Dabei hat er ihn selbst ins Land geholt. Die Gerüchte über den Grund ihrer Feindschaft will ich hier nicht ausbreiten. Münch hatte bei der Erstellung des Ministergesetzes geglaubt, einen Trick gefunden zu haben, der den aus Westdeutschland stammenden Ministern ein volles Westgehalt sicherte, ohne dass das im Text gleich sichtbar wurde. Die Ostdeutschen bekamen auf jeden Fall sehr viel weniger Geld. In der Öffentlichkeit aber sollte der Eindruck erweckt werden, dass Ost und West gleich behandelt würden. Bei rechtzeitiger Klärung und bei besserer Stimmung in den Regierungsfraktionen hätte das Kabinett diese Affäre aussitzen können. Juristische Folgen hatte die ganze Angelegenheit auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht. Aber der Hochmut des Professors verkannte die Situation. Auch an anderer Stelle konnte man das beobachten. Immer sah er das Licht am Ende des Tunnels. Ich habe ihn gewarnt: Hoffentlich ist es nicht die entgegenkommende Lokomotive. Nun hatte sie ihn voll erwischt. Er und sein Kabinett traten am 29.11.1993 zurück.

Uns erreichte die Nachricht auf einem bündnisgrünen Parteitag in Halberstadt. Wir dachten, das sei die Stunde der Opposition. Wir wollten einen Weg finden, damit möglichst bald Neuwahlen stattfinden konnten. Wir hatten eine ungewöhnliche Idee, die das Stirnrunzeln der SPD-Fraktion hervorrief. Schon zu Beginn der Wahlperiode hatten wir uns nach ihrer Ansicht unprofessionell verhalten. Die Fraktion hatte mich gebeten, gegen den ersten Ministerpräsidenten zu kandidieren. Ich erhielt 30 Stimmen, unserer Fraktion hatte 5 Mitglieder. Durch unser Verhalten hätten wir ein deutliches Nein gegen den CDU-Kandidaten verhindert, war der Vorwurf. Dr. Reinhard Höppner hatte zwar später dann doch gegen Prof. Münch kandidiert, aber er erhielt weniger Stimmen, als seine Fraktion Mitglieder hatte. Das ließ ihn in der 93er Situation zögern. Wir aber machten uns mit einer gewissen Unbekümmertheit und Selbstüberschätzung ans Werk. Unsere kleine Fraktion hatte sich im Landtag Anerkennung erworben. Dass wir parlamentarische Traumtänzer waren, mussten wir bei späteren Wahlen schmerzlich erfahren. Auf jeden Fall rechneten wir fest damit, dass Dr. Reinhard Höppner der nächste Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt werden würde. Wir wollten nicht, dass er sich gegen Dr. Christoph Bergner, der am 2.12.1993 kandidierte, eine Niederlage einhandelte. Aber wir hofften, dass wir die Unterstützung der SPD-Fraktion für unseren Vorstoß erhalten würden. Ich sollte auf Beschluss unserer Fraktion für dieses Amt antreten. Sollte ich verlieren, wäre das keine Katastrophe, denn normalerweise stand uns solch ein Amt nicht zu. Da die FDP-Fraktion sehr wackelte und fürchtete, dass sie in den Skandal-Strudel der CDU hineingezogen würde und ihr damaliger Parteichef, der Querfurter Kuhnert mit gelbem Schal über den Domplatz eilend, für die Auflösung der Koalition agitierte, waren wir der Meinung, dass bei Zustimmung der SPD für unseren Vorschlag eine Mehrheit zustande kommen könnte. Das sollte eine Übergangslösung sein, damit der Haushalt für 1994 noch verabschiedet wurde und im März Neuwahlen stattfinden konnten. Wir wollten möglichst frühe Wahlen erreichen, weil wir nach so vielen Turbulenzen auf Stimmenzuwachs hofften. Die SPD ließ sich auf dieses Abenteuer nicht ein. Sie wollten im Lande Stimmen sammeln, die sofortige Neuwahlen forderten. Damit hatte sich die SPD-Fraktion im Landtag abgemeldet. Sie saß zwar beim Wahlgang im Parlament, aber die Mehrheit ihrer Mitglieder beteiligten sich nicht an der Wahl und beriefen sich auf ihre Initiative für Neuwahlen.

Heute wundere ich mich, dass angesichts dieser Fakten in unserer Fraktion immer noch auf die Realisierung unserer Idee gehofft wurde. Die Euphorie lässt sich schwer deuten. Wir hatten schon Maßnahmen getroffen, um den Ansturm der Kameras zu kanalisieren. Dann begann das parlamentarische Verfahren. Dr. Konrad Breitenborn von der FDP-Fraktion verwahrte sich mit tränenerstickter Stimme gegen den manipulierenden Druck seines Landesvorsitzenden. Er rief in den Saal: "Ich frage mich betroffen, was ist Demokratie noch wert, wenn Abgeordnete - das ist in meiner Fraktion passiert - so unter Druck geraten, dass sie weinen und dass sie sagen, nun können wir uns ins Gesicht spucken? Was ist die Demokratie noch wert - und das ist nicht nur mir passiert, wenn für politisches Wohlverhalten ein günstiger Listenplatz in Aussicht gestellt wird? ... Ich werde nicht auf dem Bauch liegen... Ich stehe hier im persönlichen Bereich für Gradlinigekeit, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. Mein Sohn soll später einmal nicht sagen: Der Alte hat sich von Winkelzügen und Tricksereien beeindrucken lassen. Das allein ist mir wichtiger, als wieder für vier Jahre im Parlament zu sitzen." Auf den Bänken der Koalition setzte nach diesem eindringlichen Appell das große Schluchzen ein. Das Fernsehen trug die Bilder von den weinenden Ossis in die deutschen Wohnstuben. Als Dr. Bergner gewählt wurde, ging das Licht aus. Die Leitungen im Landtag hielten dem Ansturm der deutschen Medienöffentlichkeit nicht stand. Von 106 Abgeordneten nahmen 23 SPD-Abgeordnete an der Wahl nicht teil. 83 beteiligten sich. 60 stimmten für Dr. Bergner, 6 enthielten sich der Stimme, 17 stimmten für mich. Wir waren hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet.