Wer zu früh lacht, den bestraft das Leben

Unsere Hochstimmung im Jahr 1993 war trotzdem verständlich. Am 20.April musste die Landesregierung zähneknirschend ein Emnid-Umfrageergebnis bekannt geben. Die CDU fiel danach von 39% auf 26%, die FDP hielt bei 10%, die SPD erhielt 34%, die PDS 12% und uns wurden 13% prognostiziert. Die Koalition hatte ihre Mehrheit verloren und wir hatten unser Ergebnis fast verdreifacht. Uns war klar, wir würden nach den nächsten Wahlen mitregieren. Mit stolz geschwellter Brust machten wir auch personelle Forderungen auf. Drei Ministerien wollten wir beanspruchen. Ein Schlüsselressort musste her. Der kleine Parteitag beschloss, das Finanzministerium anzustreben. Das Innenministerium lehnte er ab, weil er politische Komplikationen befürchtete, wenn ein bündnisgrüner Innenminister Polizei aus Sachsen-Anhalt nach Gorleben schicken würde, um die Atomkraftgegner mit staatlichen Sanktionen zu behindern. Klar war auch, dass Heidrun Heidecke und ich einen Ministerposten erhalten sollten. Auf dem letzten Parteitag vor den Wahlen erklärten wir, dass wir der Reformmotor der künftigen Regierung sein müssten. Um wirkliche Erfolge beim Regieren zu erreichen, müsse man die SPD von der Erblast ihrer Zögerlichkeit befreien und sie zum Jagen tragen. Keiner hielt uns für übergeschnappt. Reinhard Höppner erschien bei dieser Veranstaltung und sollte ein Grußwort sprechen. Er saß neben mir und meinte, wir sollten das Innenministerium beanspruchen. Grußwort und Ministeriumsangebot, das war ein völlig unübliches Verhalten in westdeutschen Politiklandschaft. Dort gab es eine gediegene und über Jahre gewachsene Abneigung zwischen der SPD und den Grünen. Niemals war ein SPD-Spitzenkandidat Grußworte verstreuend auf einem grünen Landesparteitag erschienen. Aber in Ostdeutschland gingen die Uhren anders. Die DDR-Oppositionellen landeten mehrheitlich bei der SPD oder bei den unterschiedlichen Bürgerbewegungen, die schließlich zu Bündnis 90 mutierten. Der gemeinsam erfahrene Druck durch die Behörden und Parteien der DDR führten zu einer großen persönlichen Nähe. Im Westen bestimmte Streit und Misstrauen das Klima zwischen den beiden Parteien. Im Osten war Harmoniebedürfnis und Vertrauen angesagt. Zwar gab es auch bei uns zeternde Parteiapparatschiks auf beiden Seiten, aber sie waren als Exoten in der Minderheit. Natürlich kannten wir die Schwächen von großen Volksparteien wie der SPD. Sie wollen möglichst viele Wählerinnen und Wähler erreichen. Deswegen sind ihre Aussagen in der Regel reichlich unkonkret und sie reden den Leuten gerne nach dem Mund. So hat eine große Koalition aus CDU und SPD für die deutsche Volksseele den Grundgesetzartikel über das Asylrecht verwässert. Das Boot sei voll, riefen beide und zwangen sich zu dieser Tat. Der latenten Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung wurde dadurch neue Nahrung gegeben. Solche Erfahrungen auch mit den ostdeutschen Mitgliedern der SPD zerstörte zwar nicht unsere Harmoniesehnsucht, aber eine Liebesheirat wollten wir das zukünftige Zusammengehen denn doch nicht nennen. Für eine Vernunftehe waren wir immer zu haben. Wenn wir denn schon in die Macht einheiraten wollten, dann gab es eigentlich nur die SPD. Der Volksmund behauptet ja auch, das solche etwas kühle Verbindungen weniger Enttäuschungen bereit halten als ein von heißer Liebe und blindem Vertrauen gestiftetes Bündnis.

Als der damalige Landesvorsitzende der PDS, Roland Claus, am Beginn des Jahres 1994 seiner Partei ein Wahlergebnis um die 20% voraussagte, haben wir uns geschüttelt vor Lachen. Als Krone seiner merkwürdigen Behauptung erschien uns, dass er die Bereitschaft seiner Partei erklärte, eine rotgrüne Minderheit zu tolerieren. Und schließlich hatten wir noch die FDP auf der Rechnung. Sie war für uns eine zu beachtende Größe im kommenden Landtag. Allerdings habe ich am 18.03.1994 in der Volksstimme gesagt: "Wenn die SPD bei einer Koalition auch noch die FDP ins Boot holt, dann wird es schwierig."

Unterdessen regierte Dr. Bergner. Um die Weihnachtszeit 1993 wurde die Koalition immer noch von einem dunklen Sturmtief gebeutelt. 11% für die CDU, 7% für die FDP ergaben Umfragen. Der neue Ministerpräsident stürzte sich in die Arbeit. Bescheidenheit war sein Markenzeichen. Nichts erinnerte mehr an das feudale Gehabe seines Vorgängers. Er fuhr mit dem Zug vom Wohnsitz Halle zum Dienstsitz Magdeburg. Als ich am 30. April 1994 mit der Eisenbahn in Halle ankam, rief in der Vorhalle jemand hinter mir her: "Herr Tschiche, sie kennen mich wohl nicht mehr?" Es war der MP Bergner zu Fuß auf dem Weg zum Vorplatz, die Tasche in der Hand. Die Bodyguards schlichen im Hintergrund hinter ihm her. Dieses Statussymbol war ihm eher peinlich. Draußen stand die Staatskarosse. "Das muss sein bis nach Hause, die Sicherheitsleute wollen das so.", meinte er etwas entschuldigend. Als er erfahren hatte, wo ich hinwollte, saß ich ruck-zuck in der Regierungslimosine. Er ließ einen Umweg fahren und setzte mich an dem gewünschten Ziel ab. Im Land spürten die Leute, das ist einer von uns. Er war kein Großkopfiger, er war eben Bergner und punktete für die CDU. Aber niemand rechnete mit dem Sieg dieser Partei am Wahlabend. Ein halbes Jahr verblieb dem dritten Nachwende-Ministerpräsidenten. Denn es war gelungen, die Wahlen auf den verfassungsrechtlich regulär frühest möglichen Termin Ende Juni 1994 zu legen.

Auf uns wartete eine unangenehme Überraschung. Als wir bei den kurz vor den Landtagswahlen stattfindenden Kommunalwahlen nur um die 6% erhielten, bedeutete das für uns zwar einen Dämpfer für unsere hochgestimmten Erwartungen, aber 8% wurden immer noch als sichere Bank angesehen. Dann kam der Wahlabend. Unsere Gesichter wurden lang und länger. Wir erreichten den rettenden Hafen von 5% nur mit Mühe und Not. 5,09% empfanden wir als heftige Niederlage und Lust zum Feiern kam nicht auf. Auch der Rauswurf der FDP aus dem Landtag konnte uns nicht trösten. Wir saßen betrippelt im Foyer eines Kabaretts, verstanden die Welt nicht mehr und trollten uns bald in die Betten. Dr. Christoph Bergner aber hatte die CDU aus dem Tal der Tränen geführt und präsentierte sich als strahlender Sieger. Dr. Reinhard Höppner von der SPD hatten den Wahlsieg um Zehntelprozentpunkte verfehlt. Die PDS erreichte fast die von Roland Claus vorausgesagte Prozentmarke. Es gab keine rot-grüne Mehrheit. An diesem Abend war ich überzeugt, dass die große Koalition kommt. "Du liebes bisschen", dachte ich, "auf der Oppositionsbank neben der PDS, das kann ja heiter werden!" Wie ein begossener Pudel fuhr ich nach Hause. Nachts bin ich noch einmal aufgestanden, ob wir auch wirklich in den neuen Landtag einziehen würden. Es klappte tatsächlich. Aber wäre die Wahlbeteiligung nicht so niedrig gewesen, hätten wir schon 1994 das Schicksal der anderen ostdeutschen Landesverbände geteilt und wären aus dem Landesparlament verschwunden. Ich wollte danach nichts als ausschlafen.