Manchmal kommt es anders als man denkt

Am anderen Vormittag erschien ich gegen 11.00 Uhr vor dem Landtag in Magdeburg. Die Journalisten standen schon vor der Tür und warteten auf mich. "Herr Tschiche, haben Sie schon gehört, Höppner will regieren und die Bündnisgrünen sollen mitmachen?", wurde ich gefragt. Nichts hatte ich gehört, ich muss ziemlich dämlich aus der Wäsche geguckt haben. Was ich nicht mehr mitbekommen hatte, war die Tatsache, dass die SPD-Mitglieder bei ihrer Wahlfete laut und lange "Rot-Grün" gerufen hatten. Natürlich war die alte Koalition abgewählt worden. Sie hatte etwa 18,5% Stimmenanteile verloren. Die Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN hatten zusammen vier Sitze mehr errungen als die CDU. Aber da war ja noch die PDS mit 21 Sitzen. Es gab also eine linke Mehrheit im Landtag. Und wenn die PDS stillhielt, konnte Höppner nach der Verfassung im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Aber ich hatte nie gedacht, dass er sich auf dieses Abenteuer einlassen würde. Der Mathematiker, der vielen als zögerlich, als harmoniesüchtig und allzu vorsichtig erschien, ergriff die Chance, eine weitere Landesregierung in Deutschland unter Führung eines Sozialdemokraten zu etablieren. Die staunende Öffentlichkeit war perplex. So viel Machtwillen hatte ihm niemand zugetraut.

So eilte ich also zu Dr. Reinhard Höppner an jenem späten Vormittag. Da saß er, wie immer mit der Pfeife bewaffnet, wirkte zart und gebrechlich und war entschlossen, Ministerpräsident zu werden. Als erstes beschlossen wir, "Du" zueinander zu sagen. Und dann ging es zur Sache. Was er mit uns gemeinsam vorhatte, war in der politischen Realität der alten Bundesrepublik nicht vorgesehen. Was sollten die Bündnisgrünen jetzt machen? Erst hatten wir getönt, man müsse die SPD zum Jagen tragen. Nun brach sie zur Jagd auf und fragte uns, ob wir mitgehen würden. Es erschien uns allemal besser mit der SPD auf der Regierungsbank zu sitzen, als mit der PDS auf den Stühlen der Opposition. Ich kann mich noch genau erinnern, dass wir uns in diesem Fall nicht groß mit unserer Parteizentrale in Bonn beraten haben. Die war so weit weg. 1990 flogen die Grünen aus dem Bundestag. Wegen der getrennten Wahlgebiete von Ost und West hielt das Fähnlein der acht Aufrichtigen aus dem Beitrittsgebiet die Plätze für die Grünen warm. Richtig gedankt hat es ihnen niemand. Und jetzt hatte die Partei mit dem Kampf um den Wiedereinzug der westdeutschen Grünen in den Bundestag voll zu tun, so dass sie die Kapriolen eines kleinen ostdeutschen Landesverbandes gar nicht recht wahrnahmen. Oft vergaßen sie uns, wenn sie die rot-grünen Landesregierungen aufzählten. Wir hatten also nicht den großen Bruder oder die große Schwester, die wir um Erlaubnis fragen mussten. Anders war das in der SPD. Rudolf Scharping wollte Bundeskanzler werden, war Bundesvorsitzender und Reinhard Höppner musste ihn fragen. Die Furcht war groß, dass allzu große Nähe zu den Verlierern des Kalten Krieges, den Schmuddelkindern der Nation, eben zur PDS die Wahlchancen verhageln könnten. Jedenfalls sagte Höppner mir, dass er noch nach Bonn reisen würde, um mit Scharping den Fall Sachsen-Anhalt zu besprechen. Er müsse ihm klarmachen, dass er mit wechselnden Mehrheiten im Land regieren wolle. Er würde mich noch in der Nacht anrufen, ob die Bonner den Versuch zuließen. Ob er die Rede von den wechselnden Mehrheiten - also bald mit der CDU, bald mit der PDS - wirklich ernsthaft ins Kalkül zog, kann ich nicht beurteilen. Mir war ziemlich klar, dass der Wahlsieger Dr. Bergner höchst gekränkt war, als sich die Karawane ohne die CDU in Bewegung setzte. Damit war die Trotz-Opposition geboren.

Dann nachts um 1.00 Uhr klingelte mein Telefon. Grünes Licht für Höppner und uns. Natürlich blieb das Grummeln mancher SPD-Granden unüberhörbar. Aber es konnte nun losgehen mit dem Regieren. Eigentlich hatten sich unsere Leute schon in den Sommer abgemeldet. Heidrun Heidecke hatte ihrer Familie eine Frankreich-Reise versprochen. Aber wir fuhren erst einmal in die Heimvolkshochschule Alterode. Dort tagte die SPD. Wir wollten erste Vorabsprachen für die Koalitionsverhandlungen treffen. Höppner wirkte an diesem Tag erschöpft und entschlossen zugleich. Führende Genossen von außen lagen ihm immer noch in den Ohren und rieten dringend ab. Wir machten den Fahrplan für den Koalitionsvertrag. Ein paar Tage durfte sich Heidrun noch in Frankreich gönnen, dann ging es los.

So lange ich denken konnte, war ich auf der Seite der Opposition, jetzt befand ich mich plötzlich am anderen Ufer. Und siehe da, plötzlich tauchten bei uns Leute aus allen Ecken der Bundesrepublik auf, die ich vorher nie gesehen hatte. Erst sehr spät begriff ich, dass manche vorbeischauten, ob für sie ein Posten abfiel. Heidrun Heidecke war als unsere Spitzenkandidatin Verhandlungsführerin. Aber ich fühlte mich ein bisschen wie der Vater des Erfolges. Dann bastelten wir an dem Koalitionsvertrag. Ökologisch vorwärts und ökonomisch aufwärts sollte es gehen, die Bildungspolitik sollte verändert werden. Ausländerfreundlich sollte die Politik der Landesregierung sein. Und natürlich waren wir für die friedliche Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide. Viele Details haben wir in den Vertrag geschrieben, Manches sollte uns später auf die Füße fallen. Zwischendurch kam uns der designierte Wirtschaftsminister abhanden, weil er die Bündnisgrünen für wirtschaftsfeindlich hielt. Und dann ging es noch um die Posten. Fest stand, dass Heidrun Heidecke Umweltministerin werden sollte. Ich wurde auch lange als Minister gehandelt. Aber angesichts der schwierigen Konstellation im Landtag beschloss ich, den parlamentarischen Prozess zu moderieren. Wir wollten noch einen zweiten Minister, aber so schnell konnten wir keinen aus dem Hut zaubern. Außerdem hatte Elke Plöger als eine der Arbeitsgruppenleiterinnen die Leitstelle für Frauenpolitik aufgewertet und an ihrer Spitze sollte eine Staatssekretärin stehen. Die sollte das Recht haben, am Kabinettstisch zu sitzen, allerdings ohne Stimmrecht. Das sei doch so gut wie eine Ministerin, machte Frau Plöger uns deutlich. Dass dieser Posten für sie selber gedacht war, wurde mir und manchen anderen erst später klar. In Personalfragen haben wir uns nach meinem Eindruck ungeschickt verhalten. Aber die Personaldecke war eben auch sehr dünn. Als Trostpflaster beschlossen die Koalitionäre noch, dass zwei SPD-Minister nur mit unserem Einverständnis berufen werden konnten. Im Justizministerium erhielten wir eine Staatssekretärsstelle. Auch das sollte sich später zum Problem auswachsen. Innerhalb von drei Wochen stand der Vertrag. An einem herrlichen Sommertag feierten wir seinen Abschluss im Hof des Parlamentes. Beide Parteien stimmten dem Werk ohne wesentliche Kritik zu. Es war vollbracht.