Tabuverletzungen

Im Vorfeld der Regierungsbildung hat die CDU nichts unversucht gelassen, die SPD von ihrem Vorhaben abzubringen. Noch am Tag der Wahl des Ministerpräsidenten hatten ihre Spitzenpolitiker die SPD-Vorständler in ihre Landtagsräume eingeladen und sie fast angefleht, von ihrer Absicht abzusehen. Ich war Zeuge, denn die SPD hatte darauf bestanden, dass ich zugegen sein sollte. Von dieser Demütigung hat sich die CDU während der nächsten acht Jahre nicht wieder erholt. Sie wäre sogar bereit gewesen, in dieser Wahlperiode das Ministerpräsidentenamt zwischen CDU und SPD rotieren zu lassen. Der Machtverlust löste in dieser Partei Panik aus. Für sie war die Weltordnung außer Fugen geraten. Ihre Politiker begriffen nicht, dass es kein Abonnement auf eine Regierungsbeteiligung gab. Die CDU auf den harten Oppositionsbänken und die Bündnisgrünen auf den Regierungsstühlen, die PDS als möglicher Tolerierungspartner, das schien ihr verkehrte Welt zu sein. Dass Reinhard Höppner ihr Flehen nicht erhörte, war der Beginn einer soliden Feindschaft zwischen ihm und Dr. Christoph Bergner. Wie sehr die Wunde schmerzte, verriet sein Satz, dass Höppner die Regierungsbildung mit der Besessenheit eines Triebtäters vorantriebe. Er fühlte sich um die Früchte seines Wahlsieges geprellt. Höppner hatte im Wahlkampf immer verkündigt, dass er sich von der PDS nie abhängig machen würde. Nun redete er von wechselnden Mehrheiten für die Minderheitsregierung. Bergner warf ihm vor, er hätte der PDS durch dieses Tolerierungsangebot Macht ohne Verantwortung zugespielt. Süffisant merkte er an, dass die Fraktionsvorsitzende der PSD, Dr. Petra Sitte, sich eine Regierung halten und sie sich bei entscheidenden Dingen gefügig machen würde. Für ihn war die PDS-Fraktion eine Erbengemeinschaft der SED, die wie ein Fossil aus dem vormundschaftlichen DDR-Staat in die neue Zeit hineinragte. Völlig verdrängt hatte Bergner offenbar, dass er selbst als Mitglied der Blockpartei CDU diesem Vormund immer öffentlich seine Ergebenheitsadressen dargebracht hatte.

Aber auch die Magdeburger Bündnisgrünen blieben nicht von heftigen Angriffen gegen das geplante Tolerierungsmodell verschont. Ehemalige Oppositionelle der DDR erhoben wütend ihre Stimme. Vera Lengsfeld, heute bei der CDU, empfand diese Entscheidung als Verrat am Herbst 1989. Der damalige Umweltminister Vaatz aus dem Freistaat Sachsen, ein ehemaliger Oppositioneller, der sofort zu CDU ging, rief mich an und erklärte mir ziemlich barsch: "Herr Tschiche, Sie haben von jetzt an einen Feind mehr!" Ehe ich überhaupt Luft holen konnte, hatte er schon wieder aufgelegt. Dabei hatten wir noch vor Wochen gemeinsam ein ganz friedfertiges Gespräch vor den Mikrofonen einer westdeutschen Rundfunkanstalt.

Reinhard Höppner wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Drei Wahlgänge waren notwendig. Es gab dabei einige Turbulenzen, jedoch keine Katastrophen. Diese Minderheitsregierung und der politische Wille, der sie zustande brachte, schrieen nach Deutung. Im Juli 1994 gaben sich die Korrespondenten der großen westdeutschen Zeitungen in unserer Fraktion die Klinke in die Hand. Über Nacht und für kurze Zeit war ich vom Provinzpromi zum Bundespromi mutiert. Die geplante Zusammenarbeit mit der PDS stieß bei ihnen auf völliges Unverständnis. Ob denn nun zum vollzogenen Machtwechsel auch bei uns ein Moralwechsel stattgefunden hätte, wurde ich immer wieder gefragt. Der Streit, ob dieses rot-grüne Regierungsbündnis ein legitimes Kind der Demokratie sei, erhitzte die Gemüter, je weiter weg je doller und je volksfrontaler erschienen wir.

Das neue Thema hieß für uns das wiedererwachte ostdeutsche Selbstbewusstsein. Die Wendeerfahrungen hatten vielen unserer Landsleute bittere Enttäuschungen und ein schlechtes Gewissen beschert. Mit gekränkter Seele und hängenden Ohren schlichen sie durch die Zeiten. Bei der Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt hatten diejenigen ein Zweckbündnis geschlossen, die die ostdeutschen Interessen vertreten und die nicht ausschließlich als politischer Sanierungsfall betrachtet werden wollten. Zwar fanden die meisten westdeutschen Kommentatoren es nicht zum Fassen, dass am Rande des Domplatzes, 1989 Ort riesiger Demonstrationen, Politikerinnen und Politiker von SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN frei nach dem alten Sponti-Spruch handelten: Sei realistisch und tue das Unmögliche. Für mich war das alles gar nicht so dramatisch. Meine erklärende These war, dass der Osten sich in der gesamtdeutschen Politik zurückgemeldet hatte.

In zweierlei Hinsicht versuchte ich das politisch zu entfalten. Mir erschien der Tolerierungspartner PDS nicht als bedrohlich. Ich war zwar immer ein Oppositioneller unter dem DDR-Regime, aber ich habe mich nie als Opfer empfunden. Ich hatte schon in jenen Zeiten mit dem kritischen Teil innerhalb der SED relativ gute Kontakte. Ich konnte schon damals die SED differenzierter sehen. Also hatte ich nach 1989 wiederum keine hohen Berührungsängste, wie es vielen aus meinem Umfeld ging. Ich musste mich für meine Haltung zu DDR-Zeiten nicht rechtfertigen und ich brauchte auch keine Sündenböcke, die mich entlasteten. Die PDS war für mich 1994 unterdessen zu einer linken ostdeutschen Volkspartei geworden, eine merkwürdige Mischung aus konservativen Hardlinern und entschlossenen Reformern. Die letzteren, einst autoritätsgläubige Genossen, hatten sich zu selbstkritischen und demokratiefreundlichen Menschen gewandelt, die den linken Traum von einer gerechteren Welt nicht zu Grabe tragen wollten, auch wenn ihn der realexistierende Sozialismus sehr beschädigt hatte. Ich versuchte meinen westdeutschen Gesprächspartnern klarzumachen, dass wir es in unserem Parlament nicht mit kommunistischen Monstern zu tun hatten, die auch künftig die Welt in Blut und Tränen stürzen würden, nur weil sie von dem irrwitzigen Aberglauben befallen seien, den Lauf der Geschichte wie ein Gott bestimmen zu können. Ich hatte einfach das Dröhnen der Trommel des Kalten Krieges abgestellt und genauer hingeschaut. Die Mehrzahl der Mitglieder dieser Partei waren so genannte kleine Leute, die Männer mit Bierbauch und die Frauen mit Rüschenblusen. Ich konnte mir gut das Bild mit dem röhrenden Hirsch in ihren Wohnungen vorstellen. Die Opportunisten, die Gewieften, die Schleimer waren der Partei schon 1990 abhanden gekommen. Geblieben waren die Treuen, die Skrupellösen und die Rechthaber. Aber wo sollten sie auch hin? Für manche war diese Partei eine Sozialstation, auf der sie von ihren Träumen von damals erzählten. Weit über die engen Parteigrenzen hinaus erschien fast 20% meiner Landsleute die PDS wie ein Ort der Vertrautheit im Sturm der Zeit. Und für die Höppner-Regierung vertrat die PDS-Fraktion Positionen, die ihr näher standen als die der CDU.

Und eine zweite Überlegung versuchte ich zu erläutern. Wenn ein Staat ohne blutige Revolution verschwindet, was macht man dann eigentlich mit seinen fachlichen und politischen Eliten? Für die fachlichen gab es sicher auch unter den veränderten Umständen Aufgaben. Aber die politischen blieben ein Problem. In den Wirren von 1989/90 waren die Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker der SED und der Blockparteien in die Wüste geschickt worden. Sollten wir nun die restlichen Mitglieder hinterherjagen? Ich war der Meinung, dass man das neue Gemeinwesen nicht ohne die alten Eliten aufbauen kann. Die Mitglieder der Blockparteien erhielten sofort nach 1990 dafür die Gelegenheit, ohne dass es zu großen politischen Aufregungen kam. Ich war und bin der Überzeugung, dass die ehemaligen der SED in der PDS die selben Chancen haben sollten, wenn sie sich als eine linke und demokratische Partei an die parlamentarischen Spielregeln halten.

Und ich redete und redete. Die einen sprachen von mir als dem Fährmann, die anderen hielten mich für den Schillernsten der Bunten. Aber eigentlich machte ich mir mit solchen Deutungen nur selbst Mut. Es war wie ein Pfeifen im dunklen Wald. Es gab keine Bestandsgarantie für die Liason von SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN im Schatten der PDS. Am 21. Juni 1994 sagte ich der Wochenpost: "Bis Oktober werden wir für die CDU als Schreckensbild im Bundestagswahlkampf herhalten müssen. Das ist schon jetzt ungemütlich, aber wenn wir das überstehen, werden sich die Christdemokraten hier im Lande einbinden lassen, weil die Bürger ihnen eine Blockadepolitik sehr übelnehmen werden." Ich hatte mich wieder einmal gründlich geirrt. Die CDU hat diese Haltung in Sachsen-Anhalt acht Jahre durchgehalten und trotzdem hat sie im Jahre 2002 einen grandiosen Wahlsieg errungen. Damals wollte sie mit der so genannten Rote-Socken-Kampagne punkten. Die gemeinten PDS-Genossinnen und -Genossen trugen eine kleine Nachbildung einer großen roten Socke als sichtbares Erkennungszeichen auf ihrer Kleidung. Geschadet hat ihnen diese Unternehmen seinerzeit überhaupt nicht. Das Geifern des damaligen Generalsekretärs der CDU erzeugte eine leichte politische Übelkeit im Lande. Irgendwann wurden jene legendäre Socken eingemottet. Am Magdeburger Modell ist die Demokratie in Deutschland nicht untergegangen.