Vom Sieger zum Verlierer

Das Frühjahr 1998 war die Jahreszeit des großen Sieges der Landes-SPD. 47 Direktmandate fielen ihr in den Schoß. Für die CDU zog nur noch der Oberbürgermeister von Naumburg und der Landrat des Ohrekreises direkt gewählt ins Parlament ein. Die CDU war endgültig im Tal der Tränen angekommen. Und dann saßen da noch die rechten Krakeler. Der neue Landtag sollte sich im Mai konstituieren. Auf dem Domplatz hatten sich etwa 50 Demonstranten, vorwiegend junge Leute, versammelt und zeigten die Losung: "Wir wollen keinen Frey-Staat". Dann ging es weiter wie im Krimi. Ein Reisebus rollte vor die Landtagstür. Mehr als 100 Polizisten schirmten ihn ab. Die 16 frisch gebackenen DVU-Landtagsabgeordneten stiegen aus. Im Gänsemarsch zogen sie durch die Sicherheitsschleuse und über Treppen in ihre Fraktionsräume. Fünf eigene Bodyguards und zehn Zivilkräfte der Polizei begleiteten sie. Journalistenfragen blieben unbeantwortet. Die Fraktionstür fiel hinter ihnen zu und drei finstere Leibwächter hielten vor dem Raum Stallwache. Selbst der Weg auf das Örtchen blieb nicht ohne Personenschutz. Das war schon eine merkwürdige Atmosphäre in einem frei gewählten Parlament. Zu allem Überfluss stellte dieser Haufen auch noch den Alterspräsidenten. Gegen 11.00 Uhr ist es so weit. Wichmann, in DDR-Zeiten LDPD-Mitglied, dann FDP, nun DVU, eröffnete die Sitzung. Er hütet sich vor polemischen Ausfällen. "Wir sollten alle darauf achten, dass die Methoden und Formen der notwendigen politischen Auseinandersetzung fair und sauber sind", liest er vom Blatt ab. Ein Wolf im Schafspelz wie er im Buche steht. Irgendwann kam der richtige Wolf, Helmut Wolf, Fraktionschef der DVU, zu Wort. "Wer den Bonner EURO-Wahn unterstützt, muss den Volkszorn in Empfang nehmen"; weiß er zu melden. Die etablierten Parteien hätten sich "im Labyrinth aus Ideologie, EURO-Wahn und Multi-Kulti völlig verfranst". Die SPD habe sich "in die bolschewistische Ecke verkrümelt". Man konnte sich auf manches gefasst machen. Aber das politische Erscheinungsbild dieser Fraktion war und blieb so kläglich, dass bei den Wahlen 2002 sie von der politischen Bühne verschwanden.

Trotzdem bleibt die beunruhigende Frage, warum die Leute 1998 auf die massive und primitive nationalistische und ausländerfeindliche Propaganda hereingefallen sind. 13% der Wahlstimmen ist ja ein sehr hoher Sprung über die 5%-Hürde. Viele wollten sich mit der Erklärung zufrieden geben, es handele sich um eine reine Protestwahl. Die linken Parteien ließen sich nicht täuschen. Der alte und neue Ministerpräsident Höppner wusste genau, dass das rechte Gedankengut in den Köpfen der Bevölkerung bis weit in die Mitte der Gesellschaft reicht. Die Landesregierung beschloss zu handeln. Sie legte ein Programm gegen den Rechtsextremismus auf. Sie wollte Weltoffenheit, Toleranz und Demokratie in Sachsen-Anhalt fördern.

Am 10. November 1998 tagten in der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt Fachleute, Politikerinnen und Politiker, um gemeinsam zu überlegen, was angesichts des erstarkten Rechtsextremismus zu tun sei. Sie ließen sich ein Modell vorstellen, das sein Arbeitsschwerpunkt zur Stärkung der Zivilgesellschaft in einem Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit sah. Es wurde beschlossen, einen Verein zu gründen, der mit einer Zentrale in Magdeburg und drei oder vier Regionalbüros im ländlichen Raum ausgestattet werden sollte. Gerade in diesen Gebieten machte sich der unorganisierte Rechtsextremismus breit und dort waren die Abwehrkräfte besonders schwach. Der Ministerpräsident, die Landesregierung und die Fraktionen der SPD und der PDS unterstützen politisch und später auch finanziell diese Idee. So wurde der Verein Miteinander e.V. geboren und ich zum Vorstandsvorsitzenden gewählt. Unsere Arbeit erlangte bald bundesweite Anerkennung. Die Landes-CDU blieb zurückhaltend. Sie meinte, der Verein sei überflüssig wie ein Kropf. Das sei nur ein Prestigeprojekt für die Landesregierung. Hier würden zwei Mio. DM verballert, um einen grünen Politiker noch ein öffentliches Wirkungsfeld zu verschaffen. Die Regierung und die Fraktionen der SPD und PDS wiesen diese Vorwürfe zurück. Für sie stand die gesellschaftliche Notwendigkeit dieses Vereins außer Frage.

Aber insgesamt wirkte die zweite Auflage des Magdeburger Tolerierungsmodells allein mit der PDS etwas glanzlos. Im Vorfeld der Bundestagswahlen 1998 wollte die SPD keine Koalition mit der PDS. Die PDS aber hatte mit der Tolerierungsrolle in den letzten vier Jahren gute Erfahrungen gemacht. Es kam dazu, dass an der Basis dieser Partei immer noch Leute vorhanden waren, die meinten, man würde die Kapitalismus-Kritik dann gegen das Linsengericht der Machtbeteiligung verkaufen. Der Machtwechsel im Bund bestärkte das Selbstbewusstsein der Landes-SPD. Daher behielten sie alle ihre Ministerposten und bewegten sich nach alt bewährtem Rezept auf der politischen Bühne. Die Rechten im Parlament waren für das Alltagsgeschäft des Regierens keine Gefahr. Die CDU dümpelte nach ihrer vernichtenden Niederlage im brackigen Wasser der Totalopposition dahin. Es gab keine klare Regierungserklärung, keine festgeschriebenen Ziele der Politik, sondern nur die Parole: Weiter so auf dem erfolgreichen Weg. Die PDS-Fraktion klagte sehr über diese Situation. Sie wusste nie, woran sie war. Vielleicht war die Unentschiedenheit der SPD auch darin begründet, dass der konservative Teil lieber die CDU als Partner gesehen hätte. Es mehrten sich die Anzeichen, dass an der Basis der SPD diese Vorliebe vorherrschend war. Das Unbehagen in der Partei wuchs landesweit, denn vom wirtschaftlichen Aufschwung war nichts zu merken. Zwar waren die Fundamente dafür auch in dem Land der großen und besonders maroden Kombinate der vergangenen DDR gelegt, aber für viel Geld vom Land stellte die neue Großindustrie nur wenig Arbeitsplätze zur Verfügung. Der Mittelstand schwächelte vor sich hin. Sachsen-Anhalt blieb das Land der roten Laternen. In der SPD formierte sich die Neue Mitte, die noch an Höppner festhielt, dafür aber seinen verlässlichen Weggefährten, den Landesvorsitzenden Dr. Rüdiger Fikentscher, heftig abstrafte. So zog 2002 eine verunsicherte SPD in den Landtagswahlkampf. Sie konnte keine Koalitionsaussage machen, weil es sie zerrissen hätte. Dagegen beklebte die FDP das Land mit dem Bild von Cornelia Pieper und dem flotten Spruch: Höppner geht, die Arbeit kommt. Die CDU hatte sich auf den Chefarzt Böhmer geeinigt. Kein schmalgesichtiges Intellektuellengesicht schaute von den Wahlplakaten, sondern ein gewichtiger Herr, dem sich der autoritätsgläubige Wähler ruhig anvertrauen konnte. Alle spürten das unterirdische Beben in der politischen Landschaft Sachsen-Anhalts. Aber dass die Wahl der CDU einen überraschenden Triumph verschaffte, wie einst 1990, und dass die FDP aus dem politischen Abseits auferstand, ebenfalls an den Erfolg von 1990 anknüpfend, das hatte niemand erwartet. So war das politische Schicksal von Reinhard Höppner und seiner Regierung besiegelt. Jetzt weht ein konservativer Wind durch das Land. Der Repressionsstaat macht Fortschritte. Die bunte Welt einer multikulturellen Gesellschaft gerät unter Generalverdacht. In der Wirtschaft kann man Hoffnungszeichen am Horizont ausmachen, die ihre Wurzeln in der Vorgängerregierung haben. Herr Böhmer bleibt, Frau Pieper ist gegangen. Meine Hoffnung ist geschwunden, dass auch konservative Regierungen meinen Traum von einer offenen und gerechteren Gesellschaft befördern würden. Sie hat im letzten Jahr einen argen Dämpfer erhalten.