Türöffner

Kaum saßen wir auf den Regierungsbänken, begannen die Probleme. Die Umweltpolitiker der SPD hatten in den Koalitionsvertrag schreiben lassen, dass die Südharz-Autobahn nicht gebaut werden sollte. Uns war das nur recht. Da machte sich die CDU über uns her. Wir würden die Entwicklung des Landes behindern. Sie mobilisierte die Straßen- und Autobahnfreunde in der Bevölkerung. Massig Unterschriften wurden gegen unsere Absicht und für den Autobahnbau gesammelt. Unterdessen stellte sich heraus, dass das Planungsverfahren schon so weit gediehen war, dass die Autobahn sich faktisch schon im Bau befand. Die SPD schwenkte um und die Bündnisgrünen standen im Regen. Wir galten als die Verlierer, obwohl wir nur der SPD hinterhergelaufen waren. Man traute uns alles zu. Wir waren in der Augen der Mehrheit der Bevölkerung ein Bremsklotz der Entwicklung. Der ehemalige FDP-Wirtschaftminister Horst Rehberger hatte damals auf seinem Parteitag erklärt, es gäbe eine Zauberformel für Investitionsverhinderung, sie heiße Hei-Tschi (Heidecke-Tschiche). Kaum ausgesprochen verlasse jeder potentielle Investor fluchtartig das Land.

Als wir diese Krise überwunden hatten, zog die nächste herauf, die zur heftigen Bedrohung der Regierung werden sollte. Im Haushaltplan 1995 waren 130 Stellen für den Verfassungsschutz vorgesehen. Wir hielten vom Geheimdienst nicht viel, dank unserer DDR-Erfahrung, hatten uns aber auf diesen Kompromiss im Koalitionsvertrag geeinigt. Da machte sich die PDS-Fraktion unsere Skepsis zu eigen und stimmte der entsprechenden Haushaltsstelle nicht zu. Die SPD sann auf listige und verschlungene Auswege. Die CDU-Fraktion hätte ja einen Antrag auf 150 Stellen in der Tasche. Wenn dieser Antrag eingebracht würde, dann würde sich die SPD der Stimme enthalten. Wir und die PDS hätten die Freiheit , dagegen zu stimmen. Dann ständen zwar 150 Stellen im Haushalt, aber Höppner als Sparkommissar würde nur 130 besetzen. Wir Bündnisgrünen waren sprachlos über so viel listige Naivität. Wenn die Fraktion diesen Vorschlag durchlassen würde, würde uns die bündnisgrüne Partei das Vertrauen entziehen. Und wer garantierte eigentlich, dass der mühselig mit der PDS-Fraktion ausgehandelte Kompromiss zum Gesamthaushalt über die Bühne ging? Ich machte mich also auf die Strümpfe. Das hat die Legende über meine Rolle als Scharnier in diesem Bündnis gestärkt. Am 8. März 1995 schreibt die Volksstimme: "Wenn die Regierungspolitik selbst in Flammen steht, muss Hans-Jochen Tschiche als Feuerwehrmann raus. Gestern versucht der bündnisgrüne Fraktionschef wieder einmal zu löschen - und die PDS umzustimmen." "Bei der PDS holte sich Tschiche einen Korb", titelte am selben Tag die Mitteldeutsche Zeitung. Ich hatte mir in den Vortagen einen Kompromiss überlegt. Der Verfassungsschutz sollte in Sachsen-Anhalt nicht größer sein als in Schleswig-Holstein. Die Bevölkerung beider Bundesländer war zu dieser Zeit ungefähr gleich groß. Dort befanden sich 80 Verfassungsschützer in Lohn und Brot. Mein Vorschlag war, bis 1998 beim Verfassungsschutz 50 Stellen insgesamt in einzelnen Jahresscheiben zu streichen. Mit dieser Idee war ich am frühen Morgen des 7. März in die Staatskanzlei gegangen. Höppner meinte, ich solle mir die Zustimmung bei PDS holen. Der Innenminister Dr. Manfred Püchel verließ darauf Türen schlagend den Raum. Ich erläuterte den Vorschlag auch der SPD-Fraktion. Aber bei meinem Gang zur PDS-Fraktion begleitete mich kein SPD-Genosse. Wenn ich abblitzte, war es allein eine Niederlage der Bündnisgrünen. Offensichtlich war sich die Mehrheit der SPD im Landtag noch nicht über die Schwere der Krise im Klaren. Dazu musste ich in den Regionalzeitungen Stimmen aus der SPD-Fraktion lesen, die da sagten, ich hätte das ganze Problem erst selbst richtig hochgespielt und im übrigen brauche man einen starken Verfassungsschutz, ich hätte gar keine Ahnung, was im Lande los sei. Um 15.00 Uhr musste ich meine Hoffnung begraben. Ich konnte die PDS-Fraktion nicht dazu bewegen, sich auf meinen Kompromissvorschlag einzulassen. Reinhard Höppner hatte begriffen, was auf dem Spiel stand. Er suchte unsere Fraktion auf und setzte auf weitere Verhandlungen. Irgendwann ist dann die Mehrzweckwaffe der PDS, Gregor Gysi, ins Rennen geschickt worden. Als die Abstimmung im Landtag anstand, war die Mehrheit für den Vorschlag der bündnisgrünen Fraktion gesichert. Bei dem Umtrunk in der Staatskanzlei nach der Verabschiedung des Haushaltes 1995 wurde ich von vielen Fraktionären der SPD als Retter der Koalition gefeiert.

Ich ließ mir das Prädikat gern gefallen, obwohl mir klar war, dass bei der Annäherung von SPD und PDS sich unsere Rolle verflüchtigen würde und unsere politische Bedeutung sinken könnte. Später wurde mir der Vorwurf aus meiner Partei gemacht, ich hätte mich zu lange an dieser Rolle festgehalten. Damals fand ich das ungerecht. In jenen Tagen, in denen die Parlamentarier noch etwas zu sagen hatten, die Regierung Vorschläge entwickelte und dann im Landtag Mehrheiten und Kompromisse organisiert werden mussten, erschien mir das Parlament als Zentrum der Macht, das es ja nach der Verfassung sein sollte. Die ursprüngliche Idee des Parlamentarismus ist, dass die Regierung das ausführt, was die Abgeordneten beschließen. Regierungen neigen dazu, das Parlament für eine Einrichtung zu halten, die sie beim Regieren behindert. Im Abstand von fast acht Jahren glaube ich schon, dass die Kritik an der Moderatoren-Rolle berechtigt war. Es bestand die Gefahr, dass in einer Kette von fortwährenden Kompromissen das Profil der Bündnisgrünen Schaden nehmen könnte.

Die Wirklichkeit holte mich bald ein. In den folgenden Monaten machten zwei Personen meine Feuerwehreinsätze überflüssig. Im Parlament nannte man sie bald Plisch und Plum. Der führende CDU-Fraktionär Jürgen Scharf leistete sich einen unabsichtlichen Versprecher. Er redete von Herrn Gullerjahn und Herrn Ballert. Die Heiterkeit im Plenum war groß. Jens Bullerjahn, Jahrgang 1965, SPD-Fraktionsgeschäftsführer, und Wulf Gallert, Jahrgang 1963, PDS-Geschäftsführer, sollten bald die entscheidenden Figuren im Parlament für die Koalition werden. Sie passten gut zusammen. Sie waren gleichaltrig. Sie hätten in der selben Kompanie der NVA dienen können. Sie hatten taktisches Geschick und politische Durchsetzungskraft. Sie wussten, was sie wollten. Sie brauchten keinen Moderator mehr. Augenfällig wurde das, als die beiden auf der Datsche von Roland Claus die Kompromisslinien für den Haushalt 1996 festlegten. Ich war nicht dabei. Nicht, weil sie mich ausgeschlossen hätten, sondern weil es mir nicht gut ging und ich nicht hingefahren bin. Noch erschien ich immer als der Dritte im Bunde, aber die Gewichte hatten sich verlagert. Jetzt konnten sie auch ohne uns. Wir waren die Türöffner für eine politische Konstellation, bei der die PDS eine Rolle spielte. Das galt bis dahin als Skandal. Jetzt wurde es zum Alltag. Für den Fortgang der Geschichte waren wir eigentlich nicht mehr nötig.